Chile 1973: Ein Augenzeuge erzählt

Demonstration "Für die Volksmacht"

In diesen Tagen jährt sich der Putsch der faschistischen Generäle gegen die chilenische Regierung im Jahr 1973. Bis 1990 regierten die Generäle in einem blutigen Terror-Regime. Ich habe vor einigen Jahren ein Interview mit A. geführt, einem chilenischen Trotzkisten, der die Tage des Putsches miterlebte.

Bei der Wahl im September 1970 hatte das linke Wahlbündnis Unidad Popular (Volkseinheit) die relative Mehrheit der Stimmen erhalten. Der Linkssozialist Salvador Allende wurde mit den Stimmen der UP und der christdemokratischen Partei im Parlament zum neuen Präsidenten des Landes gewählt.

Im Wahlkampf forderte die UP eine ganze Reihe von fortschrittlichen Sozialmaßnahmen, die auch der Modernisierung des Landes dienten. Auch einige Schlüsselindustrien, etwa die Kupferindustrie, wurden verstaatlicht, woraufhin die USA ein Handelsembargo über Chile verhängten.

Salvador Allende

Salvador Allende

Diese fortschrittliche Politik brachte der UP weitere Zugewinne. Bei den Kommunalwahlen 1971 kam das Bündnis bereits auf 49,7 % der Stimmen. Im Parlament aber konnte die rechte Mehrheit aus konservativen Kräften inklusive der christdemokratischen Partei die meisten Gesetzesinitiativen bremsen oder blockieren.

Parlament oder Revolution?

Innerhalb der UP war die Orientierung auf das Parlament umstritten. Während der Flügel um Allende eher legalistisch orientiert war und auch einen Ausgleich mit den Christdemokraten anstrebte, forderten andere eine revolutionäre Umgestaltung und warnten vor Konzessionen an die Rechten.

Demonstration "Für die Volksmacht"

Demonstration „Für die Volksmacht“

Insbesondere im Laufe des Jahres 1973 spitzten sich die Konflikte immer weiter zu. Die konservativen Eliten versuchten durch Unternehmer-Streiks ein Wirtschaftschaos herbeizuführen, faschistische Gruppen wie „Patria y Libertad” bildeten paramilitärische Gruppen.

Allende und die Kommunistische Partei, die ihn unterstützte, setzten währenddessen nicht nur auf eine parlamentarische Lösung, sondern auch auf ein Bündnis mit den Streitkräften. So erklärte etwa der bekannte Dichter und KP-Anhänger Pablo Neruda: „Was unsere Armee betrifft, wir lieben sie. Sie ist das Volk in Uniform.“

Diese Orientierung sollte sich als fatal erweisen. Am 11. September 1973 putschte das Militär unter General Augusto Pinochet, der von Allende kurz zuvor zum Oberbefehlshaber der Armee ernannt worden war.

Blutzoll des Faschismus

In den ersten Tagen starben Tausende Menschen, darunter auch Salvador Allende selbst. Im Stadion von Santiago de Chile richteten die faschistischen Militärs ein Konzentrationslager ein. Die Schmetterlinge schrieben ein berührendes Lied über den Sänger Victor Jara, der dort gefoltert und ermordet wurde.

Wie viele Opfer der Putsch und das darauffolgende Militär-Regime insgesamt forderte, ist bis heute unklar. Sicher ist, dass tausende Menschen von den FaschistInnen inhaftiert, brutal gefoltert und ermordet wurden. Viele weitere mussten das Land verlassen.

Das improvisierte Konzentrationslager im Stadion von Santiago de Chile

Das improvisierte Konzentrationslager im Stadion von Santiago de Chile

Der Putsch wurde mit Unterstützung des US-amerikanischen Geheimdienstes durchgeführt und von den USA unterstützt. In einer Rückschau erklärte der damalige US-Außenminister Henry Kissinger angesichts zahlloser Hinrichtungen und Folterungen, “dass der Regierungswechsel in Chile für uns insgesamt von Vorteil war – selbst vom Standpunkt der Menschenrechte aus gesehen”.

Chile wurde zum Experimentierfeld der sogenannten Chicago Boys, einer Gruppe von neoliberalen US-WirtschaftswissenschaftlerInnen. Bis 1990 regierte die Junta unter Führung von Augusto Pinochet. Der chilenische Kapitalismus und die Handelsinteressen der USA waren gerettet.

Pinochet musste sich für seine Verbrechen niemals verantworten. Im Übergang vom offenen Faschismus zu einer gelenkten Demokratie, der sogenannten „Transición“, wurde Pinochet für weitere acht Jahre zum Kommandanten des Heeres ernannt. 1998 trat er ein Mandat auf Lebenszeit als Senator an, gemäß der von ihm selbst entworfenen Verfassung. Der Sitz im Senat bedeutete parlamentarische Immunität und damit Schutz vor Strafverfolgung.

Ein Augenzeuge erzählt

Einer der vielen Menschen, die nach dem Putsch flüchten mussten, ist A. In Wien führten wir ein langes Gespräch über die Tage des Putsches. Er erzählt:

„Vormittags war alles wie immer. Sonne – September ist Frühling in Chile -, Radio ‚Andres Bello‘ strahlte die gewohnte klassische Musik. Radio Andres Bello strahlt immer noch klassische Musik. Irgendwann vormittags hörte Radio Andres Bello auf, zu senden. Ich habe mir keine weiteren Sorgen gemacht, an eine Panne gedacht.

Das Militär bei der Arbeit

Das Militär bei der Arbeit

Kurz danach klingelte es. Die Nachbarn – die auch in der sozialistischen Partei waren – sagten uns Bescheid, dass in Zentrum der Stadt, also ca. zehn Kilometer entfernt, geschossen würde, dass Panzer den Regierungspalast angreifen würden.

Ich habe mich angezogen, wir sind zusammen mit den Nachbarn in die Fabrik ‚Soprole‘ gegangen. ‚Soprole‘ ist eine Milchverarbeitungsfabrik, die gegenüber meinen Haus war. Bei ‚Soprole‘ erfuhren wir, dass weder die kommunistische noch die sozialistische Partei sich gemeldet hätten.

Wir haben alle angenommen, im Falle einer bewaffneten Konfrontation hätten beide Parteien geheime Pläne vorbereitet, und wir beschlossen, uns für das Ankommen der Lastwagen mit Waffen vorzubereiten. Der ‚Cordon Vicuna Macquena‘ beinhaltete unter anderen die Firmen Soprole, wo Milchprodukt hergestellt wurden und die Firma Luchetti, die Nudeln erzeugte. Versorgung war also für mindestens eine Woche bewaffneten Widerstand garantiert.

Wir warteten

Zum Cordon gehörte auch die Gießerei ‚Sorena‘ und die Bayer-Fabrik. Sorena versprach, sie könnten auf die Schnelle bis 50 Gewehre täglich erstellen, schlechte Gewehre, die nach 100 Schuss kaputt gehen würden, aber wir wussten alle von den Mobil-Fabriken in Vietnam, wie die bloße Existenz von Widerstand einige Soldaten zur Desertion bringen würde. Wir hofften auf die Mehrheit.

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Bayer versprach, die Strassen des Stadtteils in weniger als einer Stunde unpassierbar zu machen, wir glaubten es, andere Fabriken schlossen sich an. Wir mussten auf eine Koordination mit den anderen Stadtteil warten, egal von welcher Organisation sie kommen sollte.

Wir waren einigermaßen sicher, dass sozialistische bzw. kommunistische Partei so etwas schon organisiert haben würden. Wenn nicht, sollte wenigstens der MIR einen Ansatz von Organisation haben. Wir besprachen, dass, wenn diese Koordination nicht vorhanden wäre, es Selbstmord wäre, bewaffneten Widerstand zu leisten, also warteten wir.

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Wir warteten insofern sehr aktiv, dass wir z.B. Autos knackten, um mit Hilfe von Deckungsfeuer die Grenze der Zanjon durchzubrechen, wir brauchten aber dafür die Kontakte in den Nachbar-Stadtteil … Wir warteten … Wir warten immer noch.

Augusto Pinochet (2 v.r.) im Kreis der Putschgeneräle

Augusto Pinochet (2 v.r.) im Kreis der Putschgeneräle

Später erfuhren wir, dass die KP sofort den Widerstand aufgegeben hatte, dass die SozialistInnen ein Chaos-Haufen waren. Vier Tage später erschien eine ’sozialistische Genossin‘, mit der Erklärung, sie wäre in Urlaub gewesen, jetzt wollte sie alles organisieren. Einer der Überlebenden von Sorena, der noch seine Pistole hatte, war schwer zu bremsen, wir schafften es, dass er die Urlauberin nicht erschoss.

Hauptproblem: die fehlende Organisation

Der MIR, getreu seiner Guerilla-Positionen, hatte eine Woche zuvor – also eine Woche vor dem Putsch! – mit TrotzkistInnen eine fast bewaffnete Auseinandersetzung, weil die TrotzkistInnen der America Roja, später Liga Comunista, Volks-Milizen anstatt Kommandogruppen vorschlugen. Der MIR wollte nur ‚Untergrundkämpfer‘ und sah in diesem unverschämten Vorschlag der Trotzkisten eine Provokation, die die ‚Geheimstrukturen‘ bloß legen würde.

Das Problem waren also weder Waffen, noch Opferbereitschaft, noch Fähigkeiten, nicht einmal die Nicht-Existenz einer bewaffneten Miliz – sie hätte uns aber sehr dabei geholfen, dafür zu sorgen, dass Soldaten desertiert wären und eine Alternative zum Erschießungskommando gehabt hätten. Das Hauptproblem war die fehlende Existenz einer Organisation, die die Koordination des Widerstands auf nationaler Ebene organisiert hätte …“

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