Der ehemalige ÖVP-Chef Mitterlehner rechnet mit seinem Nachfolger Kurz ab und kritisiert Rassismus und Rechts-Parteien. Doch was hat er gleichzeitig zum Sozialabbau gesagt? Und ist Mitterlehner jetzt super?
Reinhold Mitterlehner, bis 2017 ÖVP-Chef und Vizekanzler, hat ein Buch geschrieben, nun wird die Werbetrommel gerührt. Sein Nachfolger, Sebastian Kurz, kommt dabei keineswegs gut weg. Es hätte eine minutiös geplante Machtübernahme durch Kurz und dessen Vertrauten, den damaligen Innenminister Wolfgang Sobotka, gegeben.
Sobotka, heute Parlamentspräsident, hätte die „Rolle des Zerstörers“ und des „verbalen Dreschflegel“ übernommen. Dass es diese geplante Machtübernahme tatsächlich gab, zeigen Papiere, die der Falter 2017 veröffentlicht hat.
Mitterlehner galt immer als ausgewiesener Großkoalitionär, genau deshalb musste er wohl auch weichen. Eine Mehrheit rechts von Sozialdemokratie und Grünen gibt es in Österreich seit jeder Wahl seit 1983 – nun sollte sie zum zweiten Mal nach Schwarz-Blau I abgerufen werden. Mitterlehner, der gerne mit der SPÖ weiterregieren wollte, stand dabei offenbar im Wege.
In einem Gastkommentar im Standard erklärt Mitterlehner nun seine politischen Positionen – und wirkt dabei im Verhältnis zu aktuellen österreichischen Regierung auf den ersten Blick tatsächlich fast linksliberal. Seit Regierungsantritt hätte es „keine Woche“ gegeben, in der „in Medien und Ministerratssitzungen dieser ‚Abwehrkampf gegen Überfremdung‘ nicht positioniert wurde“.
Kritik am Focus auf Migration
Der Ton sei „immer rauer“geworden, die Maßnahmen „immer mehr zur prinzipiellen Grundsatz-und Kulturfrage, dass Österreich Flüchtlinge mit anderer, vor allem islamische Kultur nicht haben wolle“. Mitterlehner kritisiert eine „Ablehnungs- und Feinbildstilisierung“ und „rechtspopulistische Ideologie“, deren „Konzepte im sachpolitischen Bereich ziemlich dünn ausfallen“.
Offensichtlich ist das eine harte Abrechnung mit seinem Nachfolger, der ÖVP und der schwarz-blauen Regierung. Und gleichzeitig sind das auch Aussagen, die sich viele von der Opposition wünschen würden, die von dort aber nicht kommen – zweifellos auch deshalb, weil sich insbesondere die Sozialdemokratie ihre Koalitionspartner in den Ländern und mögliche rechte Stimmenpotenziale nicht vergraulen möchte.
Mittlerlehner forciert Sozialabbau
Doch einige andere Aussagen von Mitterlehner gehen dabei völlig unter. Beim Antrittsalter von Frauen für die Pension kritisiert er in seinem Gastkommentar, dass Österreich 2020 „das einzige Land in der EU“ sein werde, „das mit der Angleichung des Frauenpensionsalters nicht einmal begonnen hat“. Damit ist natürlich gemeint, dass Frauen künftig später in Pension gehen, nicht etwa, dass Männer früher in Pension gehen können.
Bei der Pflege konstatiert Mitterlehner eine „Zeitbombe“. Erbschafts- und Vermögenssteuern würden „ideologisch wohl nicht infrage“ kommen, also bliebe „eine Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge“. Konkret bedeutet das, dass arbeitende Menschen von ihren Bruttolöhnen netto weniger ausbezahlt bekommen, also schlichtweg eine Lohnsenkung.
In Deutschland gibt es das bereits: Eltern, die unselbstständig erwerbstätig sind, müssen 3,05 Prozent ihres Bruttolohns bezahlen, Menschen ohne Kinder sogar 3,3 Prozent ihres Bruttolohns. Auch ÖVP und FPÖ überlegen, diese Maßnahme in Österreich durchzudrücken. Mehr dazu könnt ihr in meinem Artikel zur möglichen Einführung einer Pflege-Massensteuer lesen.
ÖVP und FPÖ diskutieren Einführung einer Pflege-Massensteuer
Bei der Zusammenlegung der Krankenkassen kritisiert Mitterlehner nicht nur, dass die Zahlen, die ÖVP und FPÖ vorlegen, „eine Politikerfiktion“ seien. Er kritisiert auch, dass der „interne Wettbewerb“ der Kassen mit einer Zusammenlegung vorbei sei und so möglicherweise mehr für die Kassen, also die Gesundheitsversorgung, ausgegeben werden müsse.
Sozialpolitisch ist Mitterlehner somit genau der ÖVP-Führungskader, der er immer gewesen ist. Das kann niemanden überraschen: Auch in seiner Regierungszeit hat die ÖVP Sozialabbau-Maßnahmen forciert, er stand dabei an der Spitze.
Das Sterben im Mittelmeer
Und was die Frage geflüchtete Menschen betrifft: Natürlich sind für viele die Worte Mitterlehners wohltuend in einer Zeit des grassierenden Rassismus. Und natürlich ist es besonders wohltuend, wenn diese Worte aus dem Mund eines unverdächtigen Zeugen kommen.
Auf Lesbos werden namenlose Flüchtlinge auf einem Acker verscharrt
Doch nicht vergessen werden sollte: Tagtäglich ertrinken Menschen im Mittelmeer, weil die Festung Europa sich immer weiter abschottet. Das war bereits 2017 so, als Mitterlehner Vizekanzler war. Und seine ÖVP und die europäische Volkspartei waren und sind führend daran beteiligt, diese Abschottung noch zu verdichten.
Worte und Taten von Mitterlehner, um sich dem Massensterben entgegenzustellen, waren während seiner Zeit an der Regierung nicht zu vernehmen. Seine Nachfolger nun für ihren Rechtspopulismus zu kritisieren, wirkt in diese Licht etwas zu billig.