[FM4] Seit 1. Mai sitzt die linke deutsche Journalistin Meşale Tolu-Çorlu in Istanbul im Gefängnis. Vorgeworfen wird ihr Terrorpropaganda und Tätigkeit als Agentin für Deutschland.
[Erstveröffentlichung: FM4, 22.05.2017] Die Polizei kam um 4:00 Uhr früh. Bilder zeigen, dass die Tür der Wohnung aufgebrochen wurde. Anschließend wurde die Wohnung durchsucht und Meşale Tolu-Çorlu verhaftet. Ihr Sohn, gerade einmal zwei Jahre alt, wurde ebenfalls bedroht. Wenn er nicht aufhören würde zu weinen, dann würde er auch verhaftet. So schildert es mir Ali Riza Tolu, der Vater der Journalistin, bei einem Gespräch in Istanbul.
Ihr Sohn sei anschließend einfach bei unbekannten Nachbarn abgegeben worden. Er selbst sei zu diesem Zeitpunkt rund 1.100 Kilometer entfernt im kurdischen Teil der Türkei gewesen. „Ich bin sofort nach Istanbul gereist, um das Kind zu betreuen.“ Sonst sei niemand mehr da. „Mein Schwiegersohn, der Mann von Meşale, ist bereits seit zwei Monaten ebenfalls inhaftiert.“
Im Visier der Behörden
Meşale Tolu ist Journalistin der linken Nachrichtenagentur ETHA und schreibt für die Zeitung Atilim. Diese Zeitung steht der ESP nahe, der „Sozialistischen Partei der Unterdrückten“, aus der auch Figen Yüksekdağ stammt. Yüksekdağ ist eine der beiden Co-Vorsitzenden der pro-kurdischen HDP und sitzt bereits seit Monaten im Gefängnis. Ebenso wie die HDP steht die ESP also im Visier der türkischen Behörden.
Die 33-jährige Journalistin Tolu wuchs im schwäbischen Ulm auf, ihr Vater, ein Automechaniker, zog sie nach dem Tod der Mutter alleine auf. Sie studierte Lehramt Spanisch an der Universität in Frankfurt, bevor sie nach Istanbul übersiedelte. Ihren Vater hat das nicht überrascht. „Sie hat sich immer für die Unterdrückten und gegen Ungerechtigkeit eingesetzt, das macht mich sehr stolz.“
Deutsche Agentin
Der Vorwurf der Behörden lautet nun: Tolu soll Mitglied der verbotenen Partei MLKP gewesen sein und Propaganda für sie betrieben haben. Doch das könnte möglicherweise nicht die einzige Anklage werden. „Bei einem Besuch im Gefängnis hat mir meine Tochter erzählt, dass die Behörden ihr auch vorwerfen, eine deutsche Agentin zu sein“, erzählt Ali Riza Tolu.
Meşale Tolu ist nicht die einzige deutsche Journalistin, die derzeit in türkischer Haft sitzt. Auch der Korrespondent der deutschen Welt, Deniz Yücel, wurde am 14. Februar festgenommen und ist seitdem inhaftiert. Ali Riza Tolu vermutet einen Revanche-Akt: „Deutschland hat einer Reihe von angeblichen Gülen-Anhängern Asyl gewährt. Das könnte möglicherweise die Antwort des türkischen Staates sein.“
Ermordete Journalisten
Meşale Tolu hat sich aus dem Gefängnis inzwischen auch selbst zu Wort melden können. In einem Statement bezeichnet sie die Anklagen gegen sich und Deniz Yücel als Komplott: „Ich denke auch nicht, dass ich zufällig festgenommen worden bin. Um die Wahrheit zu vertuschen, hat der türkische Staat genau wie im Falle des Journalisten Deniz Yücel auch mich zur ‚deutschen Spionin‘ erklärt und somit ein weiteres Mal sein Komplott offenbart. Wir wissen alle, dass in diesem Land Hunderte von Journalisten ermordet worden sind, Gewalt auf der Straße erfahren haben oder abgeschoben wurden, damit die Wahrheit nicht ans Licht kommt.“
Seit ihrer Inhaftierung sitzt Tolu im Frauengefängnis Bakırköy in Istanbul. Am Sonntag gab das Solidaritätskomitee „Freiheit für Meşale“ bekannt, dass sie zu Beginn ihrer Inhaftierung sechs Tage in den Hungerstreik getreten sei. „Frau Tolu hat über ihre Anwältin mitteilen lassen, dass sie in der Nacht ihrer Festnahme sowie in den sechs Tagen auf der Istanbuler Polizeistation Unterdrückungen und Drohungen ausgesetzt war und bezeichnet diese als Untersuchungshaftfolter“, so das Solidaritätskomitee in einer Stellungnahme.
Drohungen und Schikanen
Auch Ali Riza Tolu berichtet von Drohungen. „Meşale wurde gesagt, dass sie ihr Kind sehr lange nicht mehr sehen würde und dass die Behörden auch genau wüssten, wo ihre Verwandten leben würden.“ Er hält es auch nicht für ausgeschlossen, dass er selbst ebenfalls verhaftet wird. Damit würde dann die gesamte Familie in Haft sitzen.
Zu Beginn verhinderten die Behörden jeden Kontakt mit Meşale Tolu, erst am 15. Mai konnte der Vater seine Tochter erstmals im Gefängnis besuchen. „Die Polizei versucht dabei, mit Schikanen die faktische Besuchszeit möglichst kurz zu halten. Sie zweifeln dann beispielsweise an, ob ich der Vater von Meşale bin.“
Mittlerweile hat Tolu ihr Kind zu sich ins Gefängnis holen können. „Wir sind zuerst mit meinem Enkel nach Deutschland. Doch er hat immer wieder nach seiner Mutter gefragt und auch zu stottern begonnen. Es ist offensichtlich, dass er traumatisiert ist. Dann haben wir entschieden, dass es besser ist, wenn er mit seiner Mutter zusammen sein kann“, berichtet Tolu.
Unterstützung durch deutsche Behörden
Inzwischen haben sich auch die deutschen Behörden eingeschaltet. Die Zusammenarbeit bezeichnet Ali Riza Tolu aktuell als gut, auch wenn zu Beginn die Kontaktaufnahme schwierig gewesen sei. Es sei allerdings auch für die deutschen Behörden derzeit kaum möglich, Kontakt zur Journalistin zu bekommen.
In einer Stellungnahme schreibt das Solidaritätskomitee am Sonntag: „Es ist der Bundesregierung noch nicht gelungen, mit ihrer Bürgerin Frau Tolu direkten Kontakt aufzunehmen.“ Auch der SWR bestätigt diese Probleme.
In der Türkei läuft unterdessen die Solidaritätsbewegung an. Jeden Freitag soll es nun in Istanbul eine Kundgebung für Tolu geben (Ein Video der ersten Kundgebung findet sich hier). Auch in vielen deutschen Städten gab es bereits Kundgebungen, etwa in Berlin, Frankfurt, Köln, Nürnberg und Stuttgart. In Wien sei ebenfalls eine Solidaritäts-Aktion geplant, so Ali Riza Tolu.
Die Situation sei sehr schwierig, so der Vater. „Mir geht es wie jedem Vater, ich mache mir große Sorgen. Doch im Gefängnis hat Meşale mich am Arm genommen und gesagt, dass ihre Moral gut ist. Wenn sie rauskommt, will sie wieder als Journalistin arbeiten.“
Meşale Tolu gibt sich in ihrer Stellungnahme aus dem Gefängnis kämpferisch: „Auch ich, als Teil der freien Presse, habe trotz Bedingungen von Unterdrückung die Wahrheit vertreten und werde diese auch weiterhin vertreten. (…) Und ich wiederhole ein weiteres Mal: Euch wird nicht gelingen, uns zu besiegen! Wir werden siegen! Meşale Tolu-Çorlu“.
Völlig unklar ist derzeit, wie lange Tolu in Haft bleiben muss. „Üblicherweise dauert es derzeit sieben bis acht Monate, bis ein Verfahren eingeleitet wird“, erzählt ihr Vater. „Und sogar wenn sie freigesprochen oder nach Deutschland abgeschoben wird, war sie dann mehrere Monate im Gefängnis. So bestraft die Türkei kritischen Journalismus.“