Während am Sonntag der medial groß angekündigte Konvoi über die Grenze nach Ungarn fuhr, gab es bereits am Samstag eine erste Hilfsaktion. Wir waren dabei.
Samstag früh, 8:00 Uhr, Wien Westbahnhof. Wir treffen uns am Parkplatz vor dem Bahnhof, einer nach dem anderen kommen die AktivistInnen. Alle sind noch ein wenig müde, doch alle wirken ziemlich motiviert. Die meisten aus der Gruppe sind zwischen 20 und 30 und stammen aus Wien und Niederösterreich. Insgesamt sind wir schließlich rund 25 Personen, wir werden in einem Konvoi mit mehreren LKW und PKW nach Debrecen fahren.
In den Tagen zuvor hatten die AktivistInnen beschlossen, am Samstag über die Grenze zu fahren und dort Flüchtlinge zu unterstützen. Diskutiert wurde dabei von einigen innerhalb der Gruppe auch die Idee, auf der Rückfahrt Flüchtlingen am Weg aus Ungarn behilflich zu sein. Bewusst wurde dabei im Vorfeld auf Öffentlichkeit verzichtet, da so die Chancen weit höher eingeschätzt wurden, tatsächlich ins Land und wieder raus zu kommen und auch sich selbst und die Flüchtlinge nicht zu gefährden.
Bereits am Freitag waren in Budapest vier Wienerinnen wegen Schlepperei in U-Haft genommen worden, die rechtliche Lage in Ungarn ist sowohl für Flüchtlinge wie für HelferInnen sehr gefährlich. Die Lage soll nun noch mehr verschärft werden, am Freitag wurde eine entsprechende Gesetzesänderung beschlossen, die am 15. September in Kraft treten wird.
Am Freitag abend hatte sich die Situation schließlich fundamental verändert. Nachdem Flüchtlinge aus Budapest Richtung Grenze losmarschiert waren und die Polizei diese festhielt, drohte eine humanitäre Katastrophe. Knapp nach 22h wurde zuerst informell bekannt, dass die österreichische Regierung die Grenze öffnen wird, rund eine Stunde später kam auch die offizielle Bestätigung. Der Fokus der AktivistInnen wurde nun darauf gelegt, vor allem im Osten des Landes zu helfen, wo im Gegensatz zur großartigen Hilfe,die einereits viele Menschen in Österreich oder an der Grenze, andererseits vor allem in Budapest leisten, relativ wenig Unterstützung und Hilfsleistungen ankommen
Die Gruppe, mit der wir fahren wollen, ist bunt zusammengesetzt. Einerseits ist ein Freundeskreis vor allem aus der Gegend rund um St.Pölten aktiv, der die LWKs organisiert hat. Dominik Paireder, ein junger Niederösterreicher, erzählt, dass sie die Aktion unter ihren FreundInnen bekannt gemacht haben und binnen eines Tages enorme Mengen von Hilfslieferungen zusammen haben, die nun nach Debrecen transportiert werden sollen. Auch die Fahrzeuge wurden kostenlos zur Verfügung gestellt.
Andererseits sind am Konvoi auch AktivistInnen des Bündnisses „ Offensive gegen Rechts“ beteiligt. Ako Pire, ein Aktivist der OGR, sagt mir, dass es ihm wichtig wäre, auch praktisch solidarisch mit Flüchtlingen zu sein. Der 27-Jährige betont aber auch seine Wut über die aktuelle Situation: „Die Bundesregierung hätte schon lange handeln können. Erst als die Lage in Ungarn völlig zu kippen drohte, wurden endlich die Grenzen geöffnet.“
Am Westbahnhof werden zuerst zahlreiche Hilfsgüter verladen. Wir laden Wasser, Lebensmittel, Decken und Schlafsäcke ein, aber auch Kindernahrung, Kleidung und Hygieneartikeln. Das dauert länger als erwartet, der Grund dafür ist aber ein sehr positiver. Die Welle der Hilfsbereitschaft ist überwältigend, vor der Spendenannahmestelle bilden sich bereits lange Schlangen, während wir die Autos und LKWs beladen.
Zuerst wird noch planmäßig eingeladen, doch bald stehen immer mehr Menschen um unsere Fahrzeuge und wir füllen alle Autos einfach so voll, wie es irgendwie möglich scheint – was sich später noch als Problem erweisen wird.
Auch eine gute Freundin von mir kommt mit Hilfsgütern vorbei und bringt unter anderem sogar einen Kinderwagen. Für mich hat sie einen Kaffee, den ich sehr gut gebrauchen kann. Am Westbahnhof trafen in der Nacht bereits die ersten Busse mit Flüchtlingen ein, ab 2:00 Uhr früh hatte ich in der Vorbereitung der Erstversorgung mitgearbeitet.
Gegen 10:00 Uhr brechen wir schließlich von Wien auf, zu diesem Zeitpunkt mit 5 LKW und drei PKW. Ich fahre im PKW mit Maria Fraißler und Marla Berger, zwei Frauen, die in Wien leben und arbeiten, sowie mit unserem Photographen Christopher Glanzl.
Ich frage die beiden Frauen, warum sie das hier tun. Fraißler sagt, dass eben die Menschen selbst helfen müssten, wenn der Staat sich völlig ausklinkt. „Die Zeit der Lichtermeere, Schweigeminuten und Online-Petitionen ist vorbei. Für mich geht es darum, konkrete Aktionen zu setzen.“ Berger ergänzt: „Es ist doch offensichtlich, dass die Regierungen das Elend der Flüchtlinge bewusst in Kauf nehmen. Da kann und will ich nicht einfach zusehen.“
Berger erzählte auch, dass sie und andere im Konvoi ursprünglich überlegt hatten, heute Flüchtlinge über die Grenze zu bringen. „Die Situation mit den Verhaftungen in Budapest hat uns aber natürlich zu denken gegeben. Wir wollen auch die Flüchtlinge nicht gefährden, die wir eventuell mitnehmen würden. Unser Versorgungs-Konvoi ist jetzt das Mindeste, was wir tun können.“ Auch diese Hilfe ist nach ungarischem Recht möglicherweise bereits illegal, die Informationen dazu sind nicht eindeutig. Doch das ist für die beiden HelferInnen nicht relevant.
Unser erster Anlaufpunkt ist Budapest, wo ein Teil der Hilfsgüter an die NGO „ Age of Hope“ übergeben werden soll. Als wir den Grenzübergang Nickelsdorf passieren, sehen wir auf der ungarischen Seite zahlreiche Flüchtlinge, die am Rand der Autobahn zu Fuß Richtung Grenze wandern.
Der Grenzübergang selbst ist offenbar dicht. Auf der gegenüberliegenden Seite steht alles, es gibt kilometerlange Staus, nichts bewegt sich. Im Gegensatz zu den veröffentlichten Berichten ist die Grenze also keineswegs völlig offen. Berger sagt, dass das ein gutes Beispiel wäre, warum sie weder der österreichischen noch der ungarischen Regierung trauen trauen würde: „Der eigentliche Skandal ist doch auch, dass es so lange gedauert, bis Österreich die Grenzen endlich auch nur teilweise geöffnet hat.“
Am Nachmittag treffen wir in Budapest im Lager von Age of Hope ein. Dort erwarten uns bereits einige AktivistInnen, einer der LKW wird komplett ausgeladen. Ákos Tóth von Age of Hope erzählt mir, dass die NGO vor allem Familien unterstützen würde. Gebraucht würden dabei primär Schlafsäcke, Decken, Isomatten und auch Hygiene-Artikel. Er sagt aber auch, dass sich immer wieder ändern kann, was gerade gebraucht wird und ersucht um Kontaktaufnahme, bevor Spenden gebracht werden. Seine große Sorgen sind die nächsten Monate: „Es wird in den Nächten bereits ziemlich kalt und tausende Flüchtlinge sind ohne adäquate Versorgung. Hier kommt noch eine riesige Aufgabe auf uns zu.“
Ich frage Tóth auch nach Problemen mit ungarischen Rechtsextremen. Er berichtet von mehreren körperlichen Auseinandersetzungen mit Neonazis, einer davon erst letzte Woche. Doch er scheint recht entspannt, was den Ausgang dieser Auseinandersetzungen betrifft: „Das sind Internet-Helden, die haben nur in großen Gruppen eine große Klappe.“
Was ihm mehr Sorge bereitet, ist der Alltagsrassismus: „Die Kommentare in den sozialen Medien sind oft beschämend, manchmal sind es sogar Kinder, die wirklich furchtbare Dinge schreiben.“ Dennoch hat er die Hoffnung nicht verloren: „Ich habe weder Vertrauen in die ungarische Regierung noch in die EU. Doch ich vertraue auf die Solidarität der Menschen.“
Nach unserem ersten Stopp soll es weiter Richtung Osten geht. Der erste LKW und auch ein PKW sind nun plangemäß leer und fahren zurück. Allerdings gibt es Probleme mit zwei anderen Fahrzeugen. Bei einem PKW setzt die Gangschaltung aus und ein LKW ist so überladen, dass kaum mehr Abstand zwischen den Reifen und dem Radkasten ist. Der PKW wird notdürftig zusammengeflickt und muss die Rückreise antreten. Der LKW wird etwas entladen, vor allem die vielen schweren Wasserflaschen werden zum Teil auf andere Fahrzeuge verteilt, bevor wir die nächste Etappe in Angriff nehmen können.
Wir fahren nun immer tiefer in den Osten Ungarns, Debrecen liegt bereits im Grenzgebiet zwischen Ungarn, Rumänien und der Ukraine. Die Stimmung in unserem Auto ist gut, wir diskutieren viel miteinander. Berger spricht über ihre politische Motivation: „Es ist doch absurd, wenn Grenzen dicht gemacht werden. Alle Menschen sollten das Recht haben, dorthin zu reisen, wohin sie möchten. Wenn ich heute nach Istanbul will, kaufe ich einfach ein Flugticket, andere müssen für die Reise in die EU ihr Leben aufs Spiel setzen.“
Gegen Abend kommen wir schließlich in Debrecen an. Es ist mittlerweile 20:00 Uhr, es ist bereits dunkel. Unser Kontakt vor Ort ist die Migration Aid Debrecen. Wir werden bereits erwartet, die LKW werden teils in einem Lager entladen, wir fahren währenddessen mit einigen Wagen mit Hilfsgütern direkt zum Bahnhof weiter. Dort treffen wir auf ungarische Freiwillige und auf Gruppen von Flüchtlingen, die am Bahnhof übernachten, die meisten von ihnen stammen aus Afghanistan.
Wir verteilen Decken, Lebensmittel und Wasser, aber auch Spielsachen für die Kinder. Ein Bub von vielleicht fünf Jahren bekommt einen kleinen Teddy. Er strahlt, nimmt ihn und legt ihn dann behutsam neben seine beiden jüngeren Schwestern, die am Platz vor dem Bahnhof schlafen.
Ich spreche mit einigen der Flüchtlinge, sie erzählen mir, dass sie mittlerweile fast völlig mittellos sind und hier festsitzen. Laut ihren Erzählungen ist es üblich, dass die bulgarische Polizei die Flüchtlinge ausraubt, Schmiergelder verlangt und ihnen Geld und Handys stiehlt.
Auf ihrer Flucht seien sie immer wieder von Polizisten geschlagen worden. Nun sind sie hier in Ungarn und wollen dringend weiter, entweder nach Deutschland oder nach Frankreich. Die Polizei lässt sie aber trotz gültigem Ticket nicht weiterreisen. In anderen Lagern ist deshalb die Lage bereits eskaliert, im Erstaufnahmelager Röszke etwa an der Grenze zu Serbien gab am Freitag dieser Woche einen Massenausbruch.
Ein Mann aus Afghanistan erzählt mir, dass er bereits vier Mal wieder aus dem Zug nach Budapest vertrieben wurde. Das Ticket ist dann jedesmal verfallen, nun ist ihm das Geld ausgegangen. In der Stadt selbst dürfen sie ebenfalls keine öffentlichen Busse benützen, die Verkehrsbetriebe weigern sich, sie mitzunehmen.
Hier am Bahnhof gibt es keine Versorgung und keine Unterkunft, die Toiletten sperren um 9:00 Uhr zu. Sie wollen aber auch nicht ins Flüchtlingslager in der Stadt. Sie haben Angst, dort eingesperrt zu werden und Angst vor der Polizei. Einige berichten, dass sie im Lager von Polizisten geschlagen wurden. Auch die sanitären Verhältnisse im Lager seien noch schlimmer als am Bahnhof, die Toiletten etwa würden nicht gereinigt und seien mittlerweile nicht mehr benützbar.
Ich bemerke, dass viele der Flüchtlinge Entzündungen haben. Ein Mann, mit dem ich lange spreche, hat eine offene Wunde am Kinn. Er erzählt mir, dass die Moskitos in der Gegend ein großes Problem für viele Flüchtlinge seien, die Stiche würden sich dann entzünden. Um eine medizinische Betreuung zu bekommen, bräuchten sie aber eine Karte, die sie teils erst nach Tagen erhalten.
Aida Elsaghi ist Ärztin und fast jeden Tag am Bahnhof. Sie erzählt, dass eine Gruppe von rund 20 Personen hier seit Wochen fast rund um die Uhr die Betreuung am Laufen hält. Betreut werden täglich zirka 20 bis 30 Menschen, Männer, Frauen, Kinder, Familien. Sie sagt, dass es ernsthafte medizinische Probleme gibt und es an allem fehlt. Teilweise betreut sie Menschen, die seit Tagen nichts gegessen haben, wie sie berichtet. Die ungarischen Behörden fangen die Flüchtlinge an den Grenzen ab, bringen sie in die Lager, versorgen sie aber währenddessen nicht mit Essen oder Wasser, so Elsaghi.
Elsaghi erzählt auch, dass es Probleme mit Rechtsextremen gibt. Menschen, die solidarisch mit Flüchtlingen seien, würden bedroht und bespuckt, am Bahnhof kämen auch regelmäßig Nazis und würden die AktivistInnen photograpieren. Bisher sei nichts passiert, doch das könne sich jederzeit ändern. Ein anderer Aktivist berichtet, dass es eine Gruppe namens „Migrant Hunters“ gäbe und sogar Kopfgelder auf einzelne Flüchtlingshelfer ausgesetzt seien.
Helga Nagy von Migration Aid Debrecen berichtet aber auch von Akten der Solidarität. Menschen arbeiten freiwillig mit, ein Bäcker, selbst ehemals Flüchtling aus dem Kosovo, stellt jeden Abend Brot zur Verfügung. Auch viele Studierende der Medizin-Fakultät helfen und betreuen die Flüchtlinge.
Wir fahren dann zurück zum Lager und entladen die restlichen LKW. Während wir gemeinsam Wasserflaschen, Decken und Damenbinden schleppen, betont Ako Pire von der OGR nochmals, wie wichtig für ihn die heutige Aktion ist. Es ginge um die konkrete Hilfe, aber auch um die politische Komponente: „Genau solche transnationalen Aktionen und Vernetzungen brauchen wir im Kampf gegen die Festung Europa.“
Als wir uns auf den langen Rückweg nach Wien machen, bekommen wir immer wieder Informationen, welche Grenzübergänge frei sind. Unser PKW ist voll, doch wir wissen, dass an der Grenze zum Burgenland zahlreiche AktivistInnen bereit stehen und Flüchtlinge beim Übertritt unterstützen
Für Maria Fraißler ist klar, dass rechtliche Beschränkungen nicht an der Hilfeleistung hindert dürften: „Wenn Gesetze ungerecht sind und Menschen gefährden, dann ist es moralisch mehr als legitim und auch notwendig, sie zu umgehen.“ Um 2 Uhr früh schließlich kommen wir am Westbahnhof an. Wir sehen immer noch neue Hilfslieferungen vor der Sammelstelle gestapelt.
Bis vor Kurzem haben viele Medien vor allem von rassistischen Übergriffen gegen Flüchtlinge und der bis heute unerträglichen Situation in Traiskirchen berichtet. Manche Medien schüren diese Hetze sogar aktiv.
Doch nun ändert sich etwas. Mindestens 25.000 haben am Montagabend in Wien für die Rechte von Flüchtlingen demonstriert, bei der Hilfe an den Bahnhöfen in Wien, Linz, Salzburg, St. Pölten oder Graz engagieren sich hunderte, viele weitere unterstützen den Grenzübertritt. Der Wind dreht sich.
*Anmerkung: In einigen Fällen wurden Namen in diesem Artikel auf Wunsch der Betroffenen geändert.