Kleidung treibt in der Bucht von Dikili

[FM4] An der türkischen Küste werden jeden Tag tote Menschen und ihre Habseligkeiten angespült.

[Erstveröffentlichung: FM4, 22.04.2016] Es ist eine idyllische Bucht, irgendwo an der Straße zwischen den türkischen Orten Çandarlı und Dikili. Über schmale Wege geht es nach unten zum Wasser, vorbei an hunderte Jahre alten Olivenbäumen und quer durch die Büsche. Nur eines stört die Idylle: Überall im Wasser treibt Kleidung.

Hier schwimmt ein gelbes Kinder-T-Shirt im Wasser, dort eine rote Jacke, da ein grauer Schal. Dazwischen treibt die Verpackung einer Luftpumpe. Auch am Strand sind einzelne Schwimmflügel zu sehen, kaputte Schutzhüllen für Ausweise oder Schläuche von Autoreifen. Dazwischen liegen immer wieder Windeln und Kleidungsstücke von Kindern.

Am Abend zuvor war das Wasser noch klar gewesen, nur wenige Stunden später treiben dort dutzende Kleidungsstücke. Was mit den Menschen geschehen ist, denen diese Gegenstände gehörten, ist ungewiss.

Kleidung in der Bucht von Dikili

Lesbos, nur 15 Kilometer entfernt

Die griechische Insel Lesbos ist von hier nur rund 15 Kilometer entfernt auf der anderen Seite des Meeres. Diese Bucht ist daher eine der Hauptrouten für Flüchtlinge auf ihrem Weg von der Türkei nach Griechenland. Jede Nacht stechen hier Schlauchboote in See, wie örtliche HelferInnen berichten. Auch als ich gegen Mitternacht auf einem Felsen über der Bucht stehe, sehe ich Taschenlampen und dann einige Boote, die zu Wasser gelassen werden.

Überall in der Bucht sind die Reste von Feuerstellen zu sehen. Zeitweise warteten hier täglich bis zu tausend Menschen auf die Überfahrt, wie ein Bauer erzählt. Namentlich genannt werden will er nicht, ebenso wie viele andere, mit denen ich spreche. Die Angst vor den türkischen Behörden ist groß.

Lesbos

Gefährliche Überfahrt

Die Überfahrt nach Lesbos sieht aus wie ein Katzensprung. Der Flughafen der Insel-Hauptstadt Mytilini auf der anderen Seite der Bucht strahlt hell in der Nacht. Die grell erleuchteten Pisten des Flughafens sehen im Dunkeln aus wie eine Hafenstraße, damit wirkt das sichere Land nochmals viel näher.

Der Schein der sicheren Überfahrt trügt allerdings, wie der Segler Bülent Ulucan erzählt: „Das Wasser in dieser Gegend ist äußert gefährlich. Die Bedingungen wechseln oft rasend schnell und können sogar für größere Boote zum Problem werden.“

Das Meer, ein Friedhof

Ulucan erklärt, dass es überall zwischen dem Festland und den Inseln starke Strömungen gibt. Der Wellengang wird oft sehr hoch und bringt die kleinen Schlauchboote schnell zum Kentern. Wenn das passiert, gibt es kaum noch Hoffnung, so Ulucan: „Das Wasser hatte bis vor Kurzem noch unter 10 Grad. Länger als 20 bis 30 Minuten zu überleben, ist bei diesen Bedingungen kaum möglich.“

Die letzten Stunden vor der Fahrt ins Ungewisse

Im Wasser der türkisch-griechischen Küstenregion liegen wahrscheinlich tausende Tote. Genaue Zahlen kennt naturgemäß niemand. Doch fast jeden Tag gibt es hier neue Berichte über angetriebene Leichen, darunter sehr viele Kinder. Im November 2015 etwa war in Lesbos nicht einmal mehr Platz für weitere Tote. Die Leichen mussten vorübergehend in Kühlcontainern untergebracht werden.

Das Geschäft der Schlepper

In Dikili bin ich mit Hassan unterwegs, einem rund 60-jährigen Aktivisten einer örtlichen Flüchtlings-Hilfsorganisation. Hassan, der seinen vollen Namen nicht in der Zeitung lesen will, erzählt, dass die Schlepper die Flüchtlinge oft auf die überfüllten Boote zwingen würden. Wer protestiert, wird bedroht: „Ich habe selbst gesehen, wie Menschen mit Stöcken geprügelt wurden.“

Dikili Hafen

Auch Bülent Ulucan berichtet von den grausamen Methoden der Schlepper: „Einmal war ich in Çeşme unterwegs, als aus einem Minibus, wo normalerweise 15 Leute reinpassen, 60 bis 70 Leute gekrochen sind.“

Die Überfahrt in den Schlauchbooten kostet üblicherweise um die 1000 Dollar, das Überleben ist ungewiss. Für ein legales Ticket auf der Passagierfähre nach Lesbos hingegen sind gerade einmal 15 Euro zu bezahlen – allerdings ist der richtige Pass nötig, um diese Fähren benützen zu dürfen.

Abschiebungen in den Bürgerkrieg

Die meisten Menschen, die von hier die Überfahrt in Schlauchbooten beginnen, stammen aus Syrien, Afghanistan oder Pakistan. Doch seit einigen Wochen ist die Lage für die Flüchtlinge noch schwieriger geworden. Denn auch, wer es über das Meer nach Griechenland geschafft hat, kann nach dem EU-Türkei-Abkommen nun wieder in die Türkei deportiert werden.

Die Türkei selbst schiebt die Flüchtlinge dann weiter ab, laut verschiedenen Berichten werden dabei sogar Abschiebungen nach Syrien durchgeführt. Die HelferInnen vor Ort bestätigen diese Berichte. Hassan glaubt, dass die Menschen dennoch weiterhin den Weg über das Meer der Ägäis versuchen werden: „Ich würde doch auch alles versuchen, um rauszukommen, wenn um mich herum die Bomben fliegen.“

Hassan ist sich sicher, dass die Flucht künftig noch weit gefährlicher werden wird: „Die Boote werden versuchen, der Küstenwache und den Kriegsschiffen auszuweichen und immer längere Routen über das offene Meer versuchen.“ Bald wird also wohl wieder Kleidung in der Bucht von Dikili treiben.

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