Die französische Sozialdemokratie wurde bei den französischen Parlamentswahlen nachhaltig zerstört. Gleichzeitig ist sie Gewinnerin dieser Wahl – denn die neue Partei von Präsident Macron tritt das Erbe des rechten Flügels der Partei an. Doch nun wird sie gegen die sozialen Bewegungen bestehen müssen.
„Kann die PS überleben“, titelte das Pariser Gratisblatt „CNNEWS Matin“ am Tag nach der ersten Runde der Parlamentswahlen über die französischen SozialdemokratInnen. Der Sender BFM-TV ergänzte, dass die traditionellen Parteien pulverisiert worden wären.
Und diese Überschriften scheinen keineswegs übertrieben: Gerade einmal 7,44 % bekam die traditionsreiche Sozialistische Partei (PS) nach dem ersten Wahlgang, eine Katastrophe für die Partei. Gemeinsam mit verbündeten Listen stieg der Anteil zwar leicht auf 9,51 %, doch auch das ist weit schlechter als alle bisherigen Wahlergebnisse der Partei
Der zweite Wahlgang bestätigte die katastrophalen Ergebnisse für die Sozialdemokratie. Das Mehrheitswahrecht benachteiligt die kleineren Listen unter 12,5 %, die dann nicht mehr antreten dürfen (weshalb der erste Wahlgang für diie Kräfteverteiligung in der Gesellschaft aussagekräftiger ist). In diesem zweiten Wahlgang konnten PS und Verbündete sogar nur noch 7,49 % für sich gewinnen.
Niederlage für Rechtsextreme
Nicht viel besser erging es den Konservativen und den Rechtsextremen des Front National (FN). 21,56 % für die Konservativen (Zweiter Wahlgang: 26,95 %) und 13,2 % für die Front (Zweiter Wahlgang 8,75 %) bedeuten für beide Parteien eine herbe Niederlage. Insbesondere für Marine Le Pen und den FN ist dieses Ergebnis äußerst bitter.
In der Stichwahl zu den Präsidentschaftswahlen am 7. Mai kam Le Pen gegen den nunmehrigen Präsidenten Emmanuel Macron noch auf 33,9 %. Das bedeutete 10,6 Millionen Stimmen. Es war das bisher mit Abstand beste Ergebnis für die Rechtsextremen. Nun musste sich die Partei im ersten Wahlgang mit nur noch 2,99 Millionen Stimmen begnügen.
Die Republik ist in Bewegung
Klarer Gewinner der Wahl ist Präsident Macron. Seine neue Partei “ La République en Marche !“ (LREM, Die Republik in Bewegung) kam im ersten Wahlgang mit den verbündeten „MoDem“ auf 32,3 % der Stimmen. Im zweiten Wahlgang stieg dieser Wert noch auf 49,12 % für die „präsidentielle Mehrheit“, wie der Slogan im Wahlkampf lautete.
Alle Wahlergebnisse:
Erster Wahlgang
Zweiter Wahlgang
Aufgrund des französischen Mehrheitswahlrechts bedeutet das eine bequeme absolute Mehrheit in der Nationalversammlung für „En Marche“ und Verbündete. Und dieser Wert könnte sogar noch steigen: es wird erwartet, dass sich verschiedene Sozialdemokraten und Konservative der „präsidentiellen Mehrheit“ um Macron anschließen.
Nur wenige gingen zur Wahl
Einschränkend gilt bei allen Zahlen: Die Wahlbeteiligung war historisch niedrig. Bereits im ersten Wahlgang lag sie bei nur 51,29 %, nun sank sie nochmals auf nur noch 44 %. Das könnte einerseits damit zusammenhängen, dass auf Basis der Umfragen die Ergebnisse schon als weitgehend feststehend interpretiert wurden.
Andererseits bringt ein Mehrheitswahlrecht bei Parlamentswahlen für die SympathisantInnen kleinerer Parteien und insbesondere im zweiten Wahlgang nicht unbedingt eine hohe Motivation, an einem sonnigen Tag zur Wahl zu gehen (falls es keine Listenabsprachen mit größeren Parteien und damit eine reale Wahlchance gibt).
Doch wie neu ist „En Marche“ tatsächlich? In vielen internationalen Medien wird von einer völlig neuen Bewegung gesprochen. Und das ist zumindest irreführend. Denn Emmanuel Macron ist in der französischen Politik keineswegs ein unbekannter Neuling.
Macron: ein sozialdemokratischer Minister
Ab Mai 2012 hatte Macron die Funktion des vertretenen Generalsekretärs im Präsidentenamt. Damit wurde der ehemalige Banker ein enger Mitarbeiter des sozialdemokratischen Präsidenten François Hollande. In dieser Funktion dürfte er sich bewährt haben. Denn im August 2014 wurde er von Präsident Hollande zum Wirtschaftsminister berufen.
Macron hatte sich keinen einfachen Zeitpunkt ausgesucht. Er wurde Mitglied eines Kabinetts, das in der Bevölkerung immer unbeliebter wurde. Kaum verwunderlich, denn die Sozialdemokratie wollte ein klassisch neoliberales Programm durchziehen. Kürzungen bei den Staatsausgaben und Steuersenkungen für Unternehmen führten zu Protesten, die auch in der Partei zunehmende Unruhe auslösten.
Revolten gegen die Regierung
Im April 2014 etwa enthielten sich 41 Abgeordnete der Partei bei der Abstimmung zu einem sogenannten Stabilitätspakt, Anfang Juli 2014 waren es dann 33 beim Sozialhaushalt – weniger, als die Regierung selbst befürchtet hatte, wie die FAZ berichtet.
Der Funke, der das Fass in der Bevölkerung zum Überlaufen brachte, war schließlich das neue Arbeitsgesetz Loi Travail (nach der zuständigen Arbeitsministerin Myriam El Khomri oft auch Loi El Khomri genannt). Es brachte zahlreiche Verschlechterungen mit sich brachte. Monatelange Massenproteste und Streiks im Frühjahr 2016 folgten auf den Gesetzesvorschlag.
Das sinkende Schiff
Emmanuel Macron stand in dieser Zeit klar am rechten Flügel der Sozialistischen Partei (und somit hinter dem Gesetz). Er galt auch als möglicher Präsidentschaftskandidat der Sozialdemokratie. Doch parallel zu den Protesten flüchtete er aus dem sinkenden Schiff und gründete im April 2016 die neue Partei „En Marche“.
Im August 2016 verließ Macron schließlich auch die Regierung, um sich auf den Präsidentschaftswahlkampf zu konzentrieren. Trotzdem war zu diesem Zeitpunkt eine Einigung mit der Führung der Sozialdemokratie keineswegs unmöglich. Denn sowohl Sozialdemokratie wie Konservative treten auf Wahlebene zumeist im Bündnis mit kleineren Parteien an, im zweiten Wahlgang gibt es dann Absprachen.
Ein wesentlicher Hintergrund dafür ist die Logik des Mehrheitswahlrechts. Solche Allianzen gehen aber weit über den Wahltag hinaus. So waren beispielsweise von den sieben KandidatInnen, die im Jänner 2017 bei den offenen Vorwahlen der PS für die Kandidatur zur Präsidentschaft antraten, immerhin drei nicht aus der Sozialdemokratie, sondern aus verbündeten Parteien.
Linker Flügel gewinnt
Doch Macron verzichtete auf einen Antritt bei den Vorwahlen der Sozialdemokratie und konzentrierte sich stattdessen auf einen eigenständigen Antritt. Die Basis der PS wählte schließlich Benoît Hamon vom linken Parteiflügel und erteilte damit der Kürzungspolitik eine klare Absage. In einer Stichwahl bekam er 58,9%. Ein bemerkenswertes Ergebnis, denn sein Gegenkandidat war immerhin Manuel Valls, bis Dezember 2016 der amtierende Premierminister.
Doch ähnlich wie in Großbritannien, wo der rechte Flügel von Labour Jeremy Corbyn seit seiner Wahl boykottiert, war auch in Frankreich die Partei-Rechte mit Hamon alles andere als glücklich. Ihr Kandidat war Macron, der damit wesentliche Teile aus dem sozialdemokratischen Apparat ein.
Rechter Flügel boykottiert
Auch bei den Parlamentswahlen erklärten nun führende SozialdemokratInnen, dass sie nicht für den PS stimmen würden, sondern für „En Marche !“. Ségolène Royal etwa ist eine äußerst prominente Parteiführerin, bei den Wahlen 2007 war sie sogar die Präsidentschaftskandidatin der Sozialdemokratie.
Nun erklärte Royal, dass sie für Macron und damit gegen ihre eigene Partei stimmen würde. Die ehemalige sozialdemokratische Arbeitsministerin Myriam El Khomri suchte ebenfalls die Nähe der neuen Partei (verlor nun allerdings in der Stichwahl ihren Sitz im Parlament).
Die Partei ist tot, sagt ihr Ex-Premier
Sogar Ex-Premierminister Manuel Valls, der in den Vorwahlen gegen Hamon unterlegen war, stellt sich inzwischen öffentlich hinter Macron. „Die Sozialistische Partei ist tot“, erklärte er im Mai. Allerdings hat „En Marche !“ abgelehnt, ihn in seinem Wahlkampf öffentlich zu unterstützen (aber ebenso wie die PS in seinem Wahlkreis auch nicht gegen ihn kandidiert, womit er sein Mandat knapp behielt).
Aufgrund der mäßigen Popularität der Regierung Valls wäre ein eindeutiger Support für ihn wohl auch eine gewisse Bürde für Macron gewesen. Neben dem rechten Flügel der Sozialdemokratie hat aber noch eine zweite Partei Macron unterstützt – diese allerdings von Beginn an als Ganzes und öffentlich.
Bündnis zwischen Sozialdemokratie und Zentrum
Die bürgerlich-liberale Mouvement démocrate (Demokratische Bewegung, meist kurz MoDem genannt) stand fast von Beginn an hinter den neuen Präsidenten. Der Vorsitzende von MoDem, François Bayrou, konnte insbesondere bei den Präsidentschaftswahlen von 2007 mit fast 19 % der Stimmen selbst überraschend gut abschneiden. 2012 ging sein Anteil allerdings auf 9,1% zurück. Nun scheint es, als wäre Macron für Bayrou das ideale Mittel zum Zweck gewesen.
Denn Bayrou alleine hätte in absehbarer Zeit mit seiner MoDem kaum die Chance auf eine Regierungsmehrheit gehabt. Doch gemeinsam mit dem rechten Flügel der Sozialdemokratie rückte dieses Ziel in greifbare Nähe. Somit wurde nun eine neue Partei zusammengebastelt. MoDem und der rechte Flügel der Sozialdemokratie bildeten dabei die wichtigsten Komponenten.
Sozialabbau und ein wenig gesellschaftsliberal
„En Marche !“ kann damit als eine Art Sammelbewegung des „Zentrums“ im Parteiensystem verstanden werden, eventuell ähnlich dem Partito Democratico in Italien. Die Partei ist wirtschaftsliberal, steht fest zur EU und zur Abschottung der Festung Europa und garniert das mit liberalen Positionen etwa bei Frauen- oder LGBT-Themen.
Ex-Premier Valls ist zuzustimmen. Die französische Sozialdemokratie in der bisherigen Form ist tot. Ihr linker Flügel wird nun einen neuen Platz im Parteiensystem finden müssen. Leicht wird das nicht, denn dort tummeln sich bereits eine ganze Reihe von Parteien, die wohl authentischer sind als die langjährige ehemalige Regierungspartei.
Gibt es Platz auf der Linken?
Insbesondere „La France insoumise“ (FI, Das unbeugsame Frankreich) mit ihrem Parteivorsitzenden Jean-Luc Mélenchon sorgte in jüngster Zeit für Aufsehen. Kernelement dieser Bewegung ist die Linkspartei, eine Abspaltung der Sozialdemokratie. Bei vergangenen Wahlen trat die Linkspartei des Öfteren gemeinsam mit der Kommunistischen Partei (PCF) an, die das für Wahlkämpfe nötige organisatorische und personelle Rückgrat hat.
Auffallend an FI ist, dass die Bewegung vor allem bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen verstärkt die patriotische Karte gespielt hat und linke Symbole in den Hintergrund getreten sind. Auch der Name der Partei mit der Betonung des Französischen kann hier beispielhaft genannt werden.
Gleichzeitig ist das Bild keineswegs so klar, wie manche in der internationalen Linken meinen. Vor den jetzigen Parlamentswahlen etwa wurden überall in Paris große Plakate mit der Aufschrift „La France insoumise“ aufgeklebt. Die Farbe der Plakate: ein tiefes Rot. [Meine ausführliche Analyse zu La France insoumise könnt ihr hier lesen. (Jetzt klicken!)]
Mäßige Wahlergebnisse
Bei diesen Wahlen kam allerdings keine durchgehende gemeinsame Liste mit der PCF zustande, doch gab es die in Frankreich üblichen Listenabsprachen im zweiten Wahlgang. Dort dürfen alle KandidatInnen antreten, die im ersten Wahlgang über 12,5 % der Stimmen erhielten. Am Schluss gewinnt eine Person, der Rest der Stimmen verfällt.
Im Vergleich zu den Präsidentschaftswahlen im April verlor La France insoumise bei den Parlamentswahlen nun allerdings deutlich. Hatte Mélenchon damals im ersten Wahlgang 19,6 % der Stimmen erreicht, waren es nun im ersten Wahlgang nur noch 11,03 % (Zweiter Wahlgang: 4,86 %). Die Kommunistische Partei erhielt zusätzlich 2,7 % (Zweiter Wahlgang 1,2 %).
Ob dieser Rückgang auf die getrennte Kandidatur oder auf die geringere Bedeutung der Parlamentswahlen unter den Bedingungen des Mehrheitswahlrechts zurückzuführen ist, ist allerdings schwierig einzuschätzen. Es mag eine Mischung dieser und weiterer Faktoren sein. Für die zweite Annahme würden jedenfalls auch die Ergebnisse der in Frankreich traditionell relevanten trotzkistischen Parteien sprechen. (Gleichzeitig muss auch an dieser Stelle nochmals auf die historisch niedrige Wahlbeteiligung verwiesen werden).
Ergebnisse der revolutionären Linken
Kamen die beiden trotzkistischen Parteien Lutte Ouvrière (Arbeiterkampf) und Nouveau Parti anticapitaliste (Neue antikapitalistische Partei) bei den Präsidentschaftswahlen addiert auf 1,74 %, waren es für die Parlamentswahlen im ersten Wahlgang nur 0,77 %, also weniger als die Hälfte. Das Ergebnis zu den Parlamentswahlen liegt dabei im Schnitt vergangener Resultate und zeigt, dass die revolutionären Parteien bei Parlamentswahlen offenbar schlechter mobilisieren können.
Allerdings haben beide revolutionäre Parteien auch bei den Präsidentschaftswahlen sehr schlecht abgeschnitten. In der Vergangenheit konnten sie jeweils bereits bis zu 5 % der Stimmen verbuchen. Doch vor allem, als sich in den Umfragen immer klarer abzeichnete, dass Mélenchon eine ernsthafte Chance haben würde, gegen Macron in die zweite Runde zu kommen, wählten sehr viele Menschen wohl „nützlich“.
Doch die für die Sozialdemokratie könnte es eng werden. Ob sie tatsächlich einen eigenständigen Platz als Opposition neben FI, der KP und den trotzkistischen Parteien finden kann, muss sich erst weisen.
Mehrheit im Parlament, doch nicht in der Bevölkerung
Präsident Macron ist nun mit einer soliden Mehrheit im Parlament ausgestattet – die sich allerdings, auch das sollte nicht vergessen werden, im ersten Wahlgang nur auf 32,3 % der WählerInnen bei einer Wahlbeteiligung von 44% stützt. Sogar nach der Aussortierung vieler KandidatInnen gab es im zweiten Wahlgang mit 49,1 % keine absolute Stimmenmehrheit.
Doch es ist zu erwarten, dass Macron nun den anfänglichen Schwung für eine Reihe von scharfen sozialen Angriffen nützen wird. Insbesondere die komplette Aushebelung des Arbeitsrechts und der 35-Stunden-Woche dürfte dem „sozialdemokratisch inspirierten Politiker“ (wie Bundeskanzler Christen Kern ihn nennt) dabei ein Anliegen sein.
Die französischen Gewerkschaften haben bereits Widerstand gegen Sozialabbau-Maßnahmen angekündigt. Und schon zwischen dem ersten und dem zweiten Wahlgang zur Präsidentschaftswahl gab es breite Proteste. Unter dem Motto „Ni Le Pen, Ni Macron, Ni Patrie, Ni Patron“ (Keine Le Pen, kein Macron, kein Vaterland, kein Boss) gingen in ganz Frankreich zahlreiche Menschen auf die Straße.
Wenn die ersten Sozialabbau-Maßnahmen anrollen, könnte davon auch die extreme Rechte wieder profitieren. Eine starke und erfolgreiche soziale Protestbewegung der Linken wäre das beste Schutzschild dagegen.