[Erstveröffentlichung: Vice] Auf der griechischen Insel Lesbos, nur wenige Kilometer entfernt von der türkischen Küste, ist eines der großen Aufnahmelager für Geflüchtete. Rund tausend Menschen warten aktuell im Lager von Mytilini, ungefähr tausend weitere leben an anderen Orten der Insel. Die Versorgung ist unzureichend, ohne die vielen freiwilligen Helfer und Helferinnen wären die Strukturen wohl schon zusammengebrochen.
Die meisten Menschen in den Lagern auf Lesbos und den benachbarten griechischen Inseln Samos und Chios stammen aus Syrien, Afghanistan und Pakistan. Diese Menschen haben unter schwierigsten Bedingungen die Flucht bis nach Griechenland geschafft.
Insbesondere der letzte Abschnitt, die Fahrt über das Meer, ist lebensgefährlich, wie mir ein Mitglied der schwedischen „Sea Rescue Society“ erzählt, das auf Samos Freiwilligendienst leistet. „Das Wasser wirkt ruhig, doch es gibt gefährliche Strömungen und das Wetter schlägt schnell um. Dann wird das Wasser zur Todesfalle.“
Hier werden fast jeden Tag Leichen angespült, allein am Abschnitt zwischen der türkischen Küste und den griechischen Inseln Lesbos, Samos und Chios sind wahrscheinlich Tausende Menschen ertrunken. Genaue Zahlen kennt niemand.
Bis vor Kurzem war klar: Wer die lebensgefährliche Fahrt über das Meer geschafft hatte, war zumindest vorerst in Sicherheit. Doch nun ist alles anders. Denn Griechenland und die EU haben mit Rückschiebungen in die Türkei begonnen.
In Lesbos gibt es starke Widerstände gegen diese Abschiebungen, die Boote können oft nur mit erheblicher Verzögerung abfahren. Der griechische Radiosender Athina 984 etwa berichtete Anfang letzter Woche, dass UnterstützerInnen ins Hafenbecken von Lesbos springen würden, um so die Abfahrt der Deportationsboote zu verhindern.
Besonders besorgt sind viele geflüchtete Menschen über die unsichere Lage in der Türkei. Ich treffe Mayada in einem Flüchtlingslager auf Samos. Sie ist mit ihrer Familie aus dem syrischen Aleppo geflüchtet und möchte keinesfalls zurück in die Türkei: „Die türkischen Behörden werden uns nach Syrien schicken, wenn sie uns kriegen. Doch zurück in den Krieg, das kommt nicht in Frage. Lieber sterbe ich!“
Wohin kommen die Flüchtlinge?
Die Befürchtungen von Mayada sind nachvollziehbar. Zwar hat Angela Merkel bei ihrem Besuch in einem Flüchtlingslager in Gaziantep am Samstag die türkische Flüchtlingspolitik ausdrücklich gelobt. Aber was nach der Abschiebung aus Griechenland in die Türkei weiter passiert, ist kaum zu durchschauen.
Ein Beispiel: In internationalen Medien ist immer wieder die Rede von Aufnahmelagern in türkischen Hafenstädten wie Dikili oder Çeşme. Aber bis jetzt sind nur Pläne zum Aufbau von Camps bekannt, gegenwärtig weiß noch niemand etwas von der Umsetzung.
Mehmet, ein lokaler Flüchtlingsaktivist um die 60, sucht selbst nach Antworten: „Der Verbleib der abgeschobenen Flüchtlinge nach der Ankunft in der Türkei ist für uns völlig unklar.“ Mehmet, der aus Angst vor Repression seinen vollen Namen nicht nennen will, ist sehr besorgt: „Wir können nur hoffen, dass die Leute nicht alle sofort weiter in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden.“
Ein Soldat der türkischen Küstenwache, der auch nicht namentlich genannt werden will, bestätigt diese Befürchtungen. Er beschreibt mir das aktuelle Prozedere nach der Ankunft in der Türkei: „Die Flüchtlinge kommen mit dem Boot in Dikili an. Dort gibt es einen ersten Check, dann geht es in Bussen nach Izmir. Die Syrer werden dort ausgesetzt, der Rest wird sofort abgeschoben.“
Doch sogar syrische Flüchtlinge dürften keineswegs sicher sein. Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu behauptet zwar, dass es keine Abschiebungen nach Syrien geben würde: „So etwas machen wir nicht.“ Amnesty International hingegen berichtet, dass die Türkei bereits Tausende Menschen in das Bürgerkriegsland abgeschoben hätte. „Männer, Frauen und Kinder wurden in Gruppen von bis zu 100 nach Syrien abgeschoben“, so Marie Lucas, die Türkei-Expertin der Menschenrechtsorganisation. Derartige Massenabschiebungen nach Syrien habe es seit Mitte Januar „fast täglich“ gegeben.
Gegenwärtig gibt es in der Türkei über 20 Lager für Flüchtlinge. Offiziell spricht auch Angela Merkel inzwischen von drei Millionen geflüchteten Menschen in der Türkei. Viele Menschen leben in Zelten, andere in notdürftigen Unterkünften. Viele haben auch Privaträume angemietet—das wird solange gutgehen, wie das Geld reicht. Unter solchen Bedingungen ist eine ausreichende Versorgung kaum herzustellen.
Das Elend in Izmir
In der Millionenstadt Izmir, dem Zentrum der türkischen Küstenregion, sind überall auf den Straßen syrische Flüchtlinge zu sehen. Vor allem im Bezirk rund um den Bahnhof Basmane leben die Menschen aus Syrien, oft unter elenden Bedingungen. Viele Menschen auf der Straße betteln, Kinder verkaufen Taschentücher.
Auch die medizinische Lage der Geflüchteten könnte zu einem Problem werden. „Aus Syrien ist ein Querschnitt der Bevölkerung auf der Flucht. Dementsprechend gibt es ganz verschiedene Krankheitsbilder, von Krebs über Diabetes bis zu seltenen genetischen Erkrankungen“, so der griechische Arzt Manos Logothetis, der sich in der Betreuung von Flüchtlingen engagiert.
Logothetis sagt, dass besonders die psychischen Erkrankungen besorgniserregend sind: „Wir haben hier Menschen, die von der Flucht oder dem Verlust von Angehörigen schwer traumatisiert sind oder auch schon zuvor krank waren.“ Hier bedürfe es dringend professioneller Unterstützung, die weder in der Türkei noch in Griechenland gegeben sei, so Logothetis.
Ein Deal mit Obergrenze
Die Türkei und die EU haben Mitte März ein Abkommen ausgehandelt, das die Abschiebung von Flüchtlingen aus der EU in die Türkei regeln soll. Im Gegenzug erwartet die türkische Seite Finanzspritzen und Visa-Freiheit. Ebenfalls auszugehen ist davon, dass die EU künftig beim Krieg der türkischen Armee gegen die kurdische Minderheit im Südosten des Landes noch mehr zur Seite blicken wird.
Nach den ersten Berichten über den EU-Türkei-Deal war vor allem der Passus unklar, dass für jede Person aus Syrien, die abgeschoben wird, eine andere aufgenommen werden soll. In den kommenden Tagen wurde allerdings der Trick dabei klar: Bei der Aufnahme gibt es eine Obergrenze von gerade einmal 72.000 Menschen für die gesamte EU.
Es ist davon auszugehen, dass die EU-Staaten sich die bestausgebildeten Menschen aussuchen werden. Der Aktivist Mehmet erzählt kopfschüttelnd, dass in türkischen Medien sogar von geplanten Intelligenztests durch die EU berichtet wird: „Es ist doch absurd, wenn die Frage, ob du aus dem Krieg flüchten darfst, von deiner Schulbildung abhängt.“
Unterdessen trifft die Türkei ihre eigenen Vorbereitungen. An der Grenze zu Syrien entstehen festungsartige Grenzanlagen mit Zäunen, Gräben und Mauern. Diese Festungsanlagen sperren die Menschen in Syrien im Krieg ein.
Erst vor wenigen Tagen hat die Terrororganisation Islamischer Staat in Nordsyrien Flüchtlingslager angegriffen und so rund 30.000 Menschen zur Flucht gezwungen. Die Türkei hat sich allerdings geweigert, die Grenzen zu öffnen, so die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.
Als wenig beachteter Nebeneffekt werden durch die neuen Festungsanlagen auch die kurdischen Gebiete in der Türkei und Syrien voneinander getrennt. Im Südosten der Türkei herrscht de facto offener Kriegszustand zwischen der türkischen Armee und der kurdischen Arbeiterpartei PKK sowie lokalen Selbstverteidigungsorganisationen.
Seit Monaten drängen die EU-Institutionen darauf, die Türkei zum so genannten „sicheren Drittstaat“ zu erklären und damit Abschiebungen in die Türkei zu legitimieren. Ob diese Sicherheit in der Türkei gegeben ist, darüber sind erhebliche Zweifel angebracht.
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