„Solange es Kriege gibt, werden Menschen flüchten“

Bild: Michael Bonvalot

[FM4] Die „Initiative Solidarität“ unterstützt an der türkischen Küste Flüchtlinge und die lokale Bevölkerung. Ein Gespräch über Sebastian Kurz, Sexaufklärung und die Angst vor der eigenen Verhaftung.

[Erstveröffentlichung: FM4, 10.06.2017] Rund 200.000 geflüchtete Menschen leben an der türkischen Mittelmeerküste rund um die Millionenmetropole Izmir. Im Küstenort Çeşme unterstützt die İmece İnisiyatifi (Initiative Solidarität) Flüchtlinge und die ärmere lokale Bevölkerung.

Die Innenstadt von Çeşme ist auf Hochglanz poliert. Teure Lokale, Segelboote im Hafen und frisch sanierte Straßen. Rund 40.000 Menschen leben hier, dazu kommen zahlreiche Ferienhäuser. Izmir, die drittgrößte Stadt der Türkei, ist gerade einmal eine knappe Stunde entfernt – und Çeşme ist ein beliebter Ausflugsort für die Reichen aus der Großstadt. Auch die neuen politischen Verhältnisse hinterlassen ihre Spuren: An zentralen Plätzen stehen neuerrichtete Denkmäler, die frühere osmanische Herrscher glorifizieren.

Cesme

Bild: Michael Bonvalot

Für sehr viele Menschen auf der Flucht hat Çeşme eine besondere Bedeutung. Denn die Stadt liegt genau gegenüber der griechischen Insel Chios. Die Buchten rund um die Stadt sind damit einer der zentralen Abfahrtsorte für Flüchtlinge auf ihrer gefährlichen Fahrt über das Meer.

Die letzten Stunden vor der Fahrt ins Ungewisse

Im Lokal der İmece İnisiyatifi in Çeşme traf ich Ali Güray Yalvaçlı, den Gründer der Initiative, sowie Berit, eine deutsche Freiwillige, zu einem Gespräch.

Letztes Jahr war das hier noch eine Baustelle. Euer neues Lokal ist richtig schön geworden.

Ali: Vielen Dank! Es war auch ein hartes Stück Arbeit. Und wir haben diese Infrastruktur auch dringend gebraucht. Von hier aus betreuen wir aktuell rund 10.000 Menschen im Monat. Wir fahren fünf Tage die Woche jeden Tag in ein anderes Flüchtlingscamp. Es sind übrigens kaum einzelne Leute, hier leben vor allem Familien.

Wie sieht diese Betreuung aus?

Berit: Wir arbeiten auf verschiedenen Ebenen. Zuerst bringen wir natürlich einmal das notwendigste in die Flüchtlingslager, also Essen, Hygieneartikel, Babymilch, Windel, Kleider oder Heizungsmöglichkeiten. Dann machen wir Unterricht mit den Kindern. Wir basteln und spielen mit ihnen und bringen ihnen Türkisch bei. Das machen wir in vier Camps, wo wir einmal in der Woche für 2-3 Stunden vor Ort sind. An den Reaktionen der Kinder sehen wir, wie wichtig ihnen das ist.

Dann sprechen wir mit den Menschen. Wir können natürlich keine sozialpsychologische Betreuung machen. Aber wir können zeigen, dass jemand da ist, der ihnen zuhört, der sich um sie kümmert. Es bräuchte auch dringend medizinische Hilfe, das können wir leider nicht anbieten. Aber wir arbeiten mit Organisationen von ÄrztInnen zusammen.

Ali: Wobei Camp ein großer Begriff ist. Das sind informelle Lager, Zeltstädte, oft ohne Strom und Wasser. Immer wieder vertreibt die Polizei die Menschen oder droht mit Vertreibung. Staatliche Lager will die türkische Regierung nur in der Nähe der syrischen Grenze, um die Leute dort zu halten.

Ihr arbeitet mit dem Ansatz der Hilfe zur Selbsthilfe. Was bedeutet das für Euch?

Ali: Wir wollen langfristige Projekte aufbauen, wo die Menschen Fertigkeiten lernen, damit sie unabhängig werden können. Wir haben jetzt etwa ein eigenes großes Grundstück, wo wir Projekte umsetzen können. Aktuell arbeiten wir beispielsweise an einem Projekt zu erneuerbaren Energien.

Dann produzieren wir auch Taschen, die Frauen bekommen ein wesentlich höheres Gehalt als hier üblich. Wir verleihen die Nähmaschinen, die Frauen können das von zu Hause machen. Wir sind nicht die Bosse, wir unterstützen.

Cesme

Bild: Michael Bonvalot

Ihr unterstützt ja gleichzeitig auch die lokale Bevölkerung. Wie hat sich das entwickelt?

Ali: Als wir uns im Jahr 2014 gegründet waren, war das eigentlich unsere ursprüngliche Idee. Es gibt hier sehr viele ärmere Leute, aber auch Menschen aus der Minderheit der Roma und Sinti, die sich das Leben nicht mehr leisten können. Wir haben einmal in der Woche eine Suppenküche für Bedürftige gemacht.

Das Problem hier im Ort ist, dass sehr viele reiche Leute herziehen. Dadurch steigen die Preise und die Mieten, viele Menschen können sich das Leben nicht mehr leisten. Die Unterstützung für Flüchtlinge kam erst später, als immer mehr geflüchtete Menschen in die Region kamen.

Woher kommen die Flüchtlinge, die ihr unterstützt?

Ali: Hier rund um Izmir leben vor allem Menschen aus Syrien. Etwas weiter im Landesinneren, in Manissa, leben auch viele geflüchtete Menschen aus Afghanistan. Dort dürfen wir aber nicht mehr arbeiten.

Dürfen die geflüchteten Menschen arbeiten?

Berit: Prinzipiell ist es erlaubt, zu arbeiten. Es ist aber gar nicht so leicht, einen Arbeitsplatz zu finden. Die meisten, die einen Job gefunden haben, sind als LandarbeiterInnen beschäftigt. Viele andere arbeiten am Bau oder in Restaurants. Die Leute in der Landwirtschaft bekommen für ihre Arbeit meistens keinen Lohn, sondern nur einen Platz zum Wohnen und Essen. Damit geht es ihnen dennoch besser als den Leuten in den Zelten. Aber ein schönes Leben ist das immer noch nicht.

Gleichzeitig ist der feste Wohnsitz extrem wichtig. Denn erst dann gibt es ein Recht auf Schulbildung und Krankenversorgung. Mit einem festen Wohnsitz gibt es auch eine türkische ID Card.

Ali: Die Leute sind auch extrem gut vernetzt und mobil. Jetzt etwa ist Erntesaison, da fahren die Leute schon mal nach Adana, also fast 1000 Kilometer, um dort arbeiten zu können.

Wie seht ihr den EU-Türkei-Deal?

Ali: Der Deal war von Beginn an tot. Okay, die Balkanroute ist zu. Jetzt hängen die Menschen auf den griechischen Inseln oder in Athen fest. Doch die Leute wollen oft zu ihren Familien, die die Flucht bereits geschafft haben. Weil die Balkanroute zu ist und die Schiffe patrouillieren, sterben die Leute jetzt auf unsicheren Routen.

Kleidung treibt in der Bucht von Dikili

Berit: Der österreichische Außenminister Kurz hat ja gesagt, dass es nicht ohne hässliche Bilder gehen wird. Er soll doch mal hierher kommen, der hat jede Verbindung zu den Leuten verloren.

Ali: Arschloch.

Habt ihr den Eindruck, dass es weiter Fluchtbewegungen gibt?

Ali: Çeşme ist weiter ein Abfahrtsort. Ich schätze, dass derzeit täglich ein bis zwei Boote die Überfahrt nach Chios versuchen, das sind so 40 bis 50 Leute. Es kommt klarerweise auch aufs Wetter an. Die Leute fahren natürlich in der Nacht, es gibt genug Schiffe die sie jagen. Von der EU patrouillieren Kriegsschiffe der NATO, der Frontex und der Küstenwache, zusätzlich gibt es noch die türkische Küstenwache.

Die meisten Leute schaffen es dennoch über das Meer, aber erst vor ein paar Wochen sind in Samos und Lesbos wieder Leichen angespült worden. [Hier könnt ihr meine Berichte über die Seeretter von Samos und den Flüchtlingsfriedhof auf Lesbos lesen]

Berit: Die Leute, die wir ständig betreuen, bleiben allerdings hier. Sie haben meist einen bäuerlichen Hintergrund. Sie wollen zurück nach Syrien, sie hätten auch gar nicht das Geld für die Überfahrt. Aktuell kostet die Fahrt rund 500 Euro pro Person. Für eine bäuerliche Familie mit vier Personen ist das außerhalb jeder Vorstellungskraft.

Ihr betreut ja auch viele Frauen und Kinder. Vor welchen besonderen Problemen steht ihr da?

Berit: 80 % der syrischen Flüchtlinge sind Frauen und Kinder. Wenn Du kein Geld in der Brieftasche hast, ist alles ein Problem. Du darfst zwar arbeiten, aber Du musst einen Job finden. Frauen verdienen in der Türkei weniger als Männer, Flüchtlinge noch weniger. Hier am Land ist die Sexarbeit kein so großes Thema, doch in Izmir gleiten da ziemlich viele Frauen ab.

Und auch in der Sexarbeit werden sie viel schlechter bezahlt als türkische Prostituierte. Eine Türkin bekommt 100 Lira [rund 25 Euro], eine Syrerin für eine ganze Nacht 25 Lira [etwas mehr als 6 Euro].

Ein weiteres großes Thema sind Verhütung und Sexaufklärung. Klar ist, dass wir da die Männer auch rein holen müssen. Etwa, wann eine Frau schwanger werden kann. Wir bereiten gerade Flugblätter über Verhütung, Schwangerschaft und die richtige Pflege von Neugeborenen vor. Wir dürfen gleichzeitig nicht vergessen, dass viele Kinder auch eine Sicherheit und Altersvorsorge bedeuten, wenn es keine funktionierenden staatlichen Sozialsysteme gibt.

Cesme

Bild: Michael Bonvalot

Was ist Eure Motivation für Eure Arbeit?

Berit: Die, die am wenigsten machen können, sind am meisten betroffen. Da müssen wir dagegen steuern. Wenn Menschen ein gutes Leben haben, dann werden sie auch nicht flüchten.

Ali: Mein Leben ist hier, ich bin glücklich, ich kann Geld verdienen, meiner Familie geht es gut. Aber solange es Kriege gibt, werden Menschen flüchten. Die EU will die Kriege nicht stoppen, aber auch keine Flüchtlinge. Das geht nicht. Gleichzeitig müssen wir auch weiter denken. Stoppen wir den Kapitalismus, dann wird alles gut (lacht).

Wie ist denn die Stimmung in der lokalen Bevölkerung?

Ali: Am Beginn haben sehr viele Leute gespendet, jetzt kommt leider weniger aus der Region. Das ist aber auch klar, man kann nicht immer etwas geben. Viele haben einfach nicht das Geld, um immer wieder etwas zu spenden. Die Kleidung die wir verteilen, kommt aber weiterhin aus Spenden.

Die beiden wichtigen Parteien hier sind die kemalistische CHP [Anmerkung: die in Europa oft als sozialdemokratisch bezeichnet wird] und die AKP von Präsident Erdoğan. Die mögen uns beide nicht so gerne (lacht). Die CHP hat sogar gegen Flüchtlinge mobilisiert.

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Und wie seht ihr die politische Lage?

Ali: Aktuell lässt uns die Polizei in Ruhe, wir haben ja eine Erlaubnis. Doch wir müssen immer vorsichtig sein, wenn nicht gehen wir ins Gefängnis. Es kann jederzeit passieren, dass jemand rein kommt und sagt, dass wir nicht mehr arbeiten dürfen.

Berit: Für mich hat sich seit dem Putschversuch der Atmosphäre sehr verändert. Freunde sind vorsichtig, wollen nicht mehr auf Facebook schreiben.

Ali: Ich finde, dass sich gar nicht so viel verändert hat. Erdoğan bleibt Erdoğan. Klar ist aber natürlich das sich etwas verändern muss, auch international.

Wo die Guerilla regiert: Das Gazi-Viertel in Istanbul

Alle Grenzen sollten offen sein. Gleichzeitig ist es sehr spannend, dass gerade die rechten PolitikerInnen am wenigsten machen. Ich habe mit einem Schweizer Politiker gesprochen, der gegen Flüchtlinge agitiert hat. Ich habe ihm gesagt, wenn er 100 Taschen kauft, bleibt eine Familie hier. Er hat keine einzige gekauft.

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