Über 5000 Flüchtlinge starben 2016 an den EU-Außengrenzen

[FM4] Das sagt der aktuelle UNHCR-Bericht – ein deutlicher Anstieg gegenüber den vergangenen Jahren.

Erstveröffentlichung: FM4, 06.01.2017

Tawfiq gehört zu denen, die überlebt haben. Der 15-jährige stammt aus Afghanistan, im vergangenen Jahr hat er die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer auf die griechische Insel Lesbos geschafft. Der aufgeweckte junge Bursche erzählt, dass er Glück hatte: „Wir sind mit einem Schlauchboot unterwegs gewesen. Wir wussten, dass das Ganze ziemlich gefährlich ist, doch das Meer war an diesem Tag relativ ruhig.“

Inzwischen lebt Tawfiq im Georg Danzer Haus in Gars am Kamp, einer Einrichtung des Vereins Fluchtweg. Hier kann er zur Ruhe kommen und auch Deutsch lernen. Wenn er älter ist, würde er gerne IT-Techniker werden.

Tawfiq vor PC lächelnd

Tawfiq. Bild: Michael Bonvalot

Als ich Tawfiq frage, was in Österreich am meisten anders ist als in Afghanistan, fällt ihm als erstes ein: „Hier gibt es keinen Krieg.“

Immer mehr Menschen sterben

Viele andere hatten nicht so viel Glück wie Tawfiq. Allein im Jahr 2016 waren es laut dem UN Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) mindestens 5022 Menschen, die an den Außengrenzen der EU ums Leben gekommen sind. Das ist ein dramatischer Anstieg gegenüber den vergangenen Jahren.

Insgesamt sind laut UNHCR seit 2011 mindestens 14.893 Menschen im Mittelmeer gestorben. Das UNHCR wertet täglich die Anzahl der Menschen aus, die nach der Fahrt über das Mittelmeer in der EU ankommen – ebenso wie die Anzahl jener, die die Überfahrt nicht geschafft haben und im Mittelmeer gestorben sind oder vermisst werden.

Berg an Rettungswesten

Rettungswesten auf Lesbos. Bild: Michael Bonvalot

Bei den 5022 vom UNHCR genannten Toten für 2016 handelt es sich allerdings um eine Mindestzahl. Denn es können nur jene Menschen gezählt werden, deren Tod auch bekannt ist. Wenn aber ein gesamtes Boot kentert, gibt es oft niemanden mehr, der darüber berichten könnte. Andere Menschen werden zwar gezählt, doch ihre Gräber tragen keine Namen.

Namenlose Gräber

An der Küste zwischen der Türkei und Griechenland werden etwa regelmäßig tote Menschen angespült, die niemand kennt. Auf der griechischen Insel Lesbos waren es zeitweise so viele Leichen, dass in den Leichenhallen kein Platz mehr war und die Toten in Kühlcontainern aufbewahrt werden mussten. Ihre letzte Ruhestätte fanden viele von ihnen am Friedhof der Flüchtlinge auf Lesbos.

Friedhof der Unbekannten, 2 Grabsteine

Der Friedhof der Flüchtlinge auf Lesbos. Unbekannte Mädchen, 3 Monate alt. Bild: Michael Bonvalot

Die meisten geflüchteten Menschen aus Syrien und Afghanistan erreichen die EU über die griechischen Inseln Samos, Chios und Lesbos. Ausgangspunkt der Reise ist auf türkischer Seite zumeist die Mittelmeer-Metropole Izmir. Auch dort ist die Lage für die Flüchtlinge katastrophal, wie mir die Aktivistin İdil Gökber bei einem Besuch in Izmir schilderte. Doch die Route über Izmir wird gewählt, weil das Meer an dieser Stelle nur einige Kilometer breit ist.

Die Strömungen in der Meerenge sind allerdings äußerst tückisch, tausende Flüchtlinge sind hier wahrscheinlich bereits ertrunken. Genaue Zahlen kennt niemand. Die Einheimischen auf Samos nennen den Küstenabschnitt, auf den die Boote zugetrieben werden, die „Küste des Todes“.

Die „Küste des Todes“ auf Samos

Für die Betroffenen gibt es allerdings keine Alternative, denn legale Möglichkeiten zur Einreise nach Griechenland gibt es de facto keine. Dabei könnte die Überfahrt sehr einfach sein: Mit dem richtigen Pass ist es mit der Fähre nur ein kurzer Trip und kostet beispielsweise auf der Route nach Samos gerade einmal 35 Euro.

Haydar hat leider den falschen Pass. Der 23-Jährige stammt aus Mossul im Irak, wo seit Juni 2014 die Terrororganisation IS regiert. Heute lebt auch er in Gars am Kamp. Im Irak hatte er Geschichte studiert, wollte Lehrer werden. Doch als der IS die Stadt einnahm, war nichts mehr wie zuvor.

Zum Glück wurde der Motor nicht kaputt

„Ich habe einen Bombenangriff gefilmt, danach wurde ich fünf Tage gefoltert“, berichtet er. Als er freigelassen wurde, war für ihn klar, dass er die Stadt so schnell wie möglich verlassen musste. Auch er flüchtete über Izmir nach Lesbos: „Wir waren 75 Leute auf dem Schlauchboot, das Meer war extrem unruhig. Wir hatten einfach nur verdammt Glück, dass der Motor nicht kaputt geworden ist.“

Werbung für Fährenüberfahrten

Werbung für die Fähre nach Griechenland in der türkischen Hafenstadt Kuşadası. Bild: Michael Bonvalot

Die Zahl derer, die bei der Überfahrt sterben, steigt insgesamt dramatisch an. 2015 waren laut UNHCR insgesamt rund eine Million Menschen über das Mittelmeer gekommen, davon rund 800.000 davon über die Ägäis. 2016 waren es im gesamten Mittelmeerraum nur noch 360.000, davon gerade einmal 170.000 in der Ägäis. Gleichzeitig stieg aber die Anzahl der Toten von 2015 auf 2016 sehr deutlich von 3771 auf 5022 Menschen.

EU und NATO im Mittelmeer

Ein Grund dafür könnte die Ausweitung des Militäreinsatzes von EU und NATO im Mittelmeer sein. Seit Oktober 2015 geht die EU im Rahmen der sogenannten „Operation Sophia“ vor den Küsten von Tunesien und Libyen verstärkt gegen Flüchtlinge vor. Auch österreichische Soldaten sind an dieser EU-Mission beteiligt.

Boote Deutscher Küstenwache angelegt

Boote der deutschen Küstenwache auf Samos. Bild: Michael Bonvalot

Und auch an der Seegrenze zwischen Griechenland und der Türkei wird aufgerüstet. Seit Februar 2016 sind dort zusätzlich zu den Grenztruppen auch Kampfverbände der NATO an der Abwehr von Flüchtlingen beteiligt. Doch je mehr Kriegsschiffe auf den bekannten und kürzeren Routen patrouillieren, desto mehr Menschen versuchen andere und gefährlichere Routen – der Anstieg der Opferzahlen ist die logische Folge.

Fluchtgründe liegen auf der Hand

Die Statistiken des UNHCR zeigen aber auch sehr gut, warum Menschen diese gefährliche Reise auf sich nehmen. Allein fast ein Viertel aller 2016 vom UNHCR für den Mittelmeerraum erfassten geflüchteten Menschen stammte 2016 aus Syrien, weitere 20% aus Afghanistan und dem Irak.

Noch deutlicher fällt die Bilanz in der Ägäis aus: Sogar 86% aller geflüchteten Menschen stammten hier allein aus diesen drei Kriegsgebieten. Gleichzeitig wird die Lage für die geflüchteten Menschen, die die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer überlebt haben, immer prekärer.

Lage in den Camps spitzt sich zu

Denn immer mehr Menschen stecken in Griechenland in den Flüchtlingslagern auf den Inseln fest, dürfen diese Inseln aber nicht Richtung Festland verlassen. Und diese Lager sind mittlerweile völlig überfüllt, es fehlt am Nötigsten. Spannungen und Verteilungskämpfe sind die logische Folge.

Manche Lager, etwa jenes im Hafen von Athen/Piräus, sind nicht mehr als improvisierte Zeltplätze. Besonders betroffen von diesen Zuständen sind Frauen, Kinder, Schwächere.

Zelt vor Hafen mit Kleinkind

Zahlreiche Kinder im Lager Piräus. Bild: Michael Bonvalot

Ein Bericht des UNHCR von Ende Dezember gibt etwa für die Insel Chios eine Kapazität von 1202 Plätzen an. Tatsächlich leben aber laut UNHCR aktuell 3804 Flüchtlinge auf der Insel, mehr als das Dreifache. Auf den anderen Inseln zeigt sich ein ähnliches Bild.
Das Lager Moria auf Lesbos etwa wurde ursprünglich für rund 1000 Personen angelegt. Bei meiner Recherche im Juni 2016 mussten allerdings bereits rund 4000 Menschen hinter den Zäunen von Moria leben.

Österreich schließt Balkanroute

Der Hintergrund dieser Überbelegung ist, dass die anderen EU-Staaten ihre Grenzen dicht machen und somit immer mehr Menschen in Griechenland festhängen. Die österreichische Bundesregierung ist für diese Situation mitverantwortlich, insbesondere durch ihr Drängen zur Schließung der Balkanroute.

Flüchtlingslager umzäunt

Flüchtlingslager Röszke an der ungarisch-serbischen Grenze. Bild: Michael Bonvalot

Auf dieser Route über den Balkan reisten bisher geflüchtete Menschen von Griechenland weiter nach Österreich und Westeuropa. Für Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) ist die gesunkene Zahl von Menschen, die nach Österreich einreisen, eine „sehr erfolgreiche Operation“ und eine „sehr positive Entwicklung“, wie er im November 2016 dem Kurier erklärte. Das Problem: die Menschen sind deshalb nicht verschwunden, sie stecken nun unter immer unzumutbareren Bedingungen in den Lagern auf den griechischen Inseln fest.

Video: Kleidung treibt in der Bucht von Dikili

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