Wie die neue Mindestsicherung Menschen mit weniger Bildung bestraft

Die Kürzung der Mindestsicherung soll auch Menschen betreffen, die keinen Pflichtschulabschluss haben. Das steht im Gesetzesentwurf, den ÖVP und FPÖ vorgelegt haben. Eine Katastrophe für Menschen mit Lernschwierigkeiten, sozialen Problemen oder psychischen Erkrankungen.

Nochmals 300 Euro Abzug sollen künftig von der Mindestsicherung abgezogen werden, wenn ein Mensch keinen Pflichtschulabschluss hat oder Deutsch nicht mindestens auf dem Niveau B1 nachweisen kann. Damit bleiben für alleinlebende Betroffene gerade einmal 585 Euro pro Monat. Wer in Österreich lebt, der oder die weiß: Das geht sich nicht aus.

Doch wir sprechen nicht nur von Zahlen, wir sprechen von betroffenen Menschen. Ich habe selbst neun Jahre lang als Sozialarbeiter Kurse für den Erwerb des Hauptschulabschlusses geleitet.

Eine Mammutaufgabe

Es war teilweise eine Mammutaufgabe für die Jugendliche und jungen Erwachsenen – die die meisten erfolgreich gemeistert haben. Ich erinnere mich noch sehr gut an einen Jugendlichen – die letzte Klasse, die er positiv abgeschlossen hatte, war die erste Klasse Hauptschule.

 Ja, das geht in Österreich: Ein Jahr Vorschule, bereits in der Volksschule einmal sitzen geblieben, das macht bereits sechs Jahre. Dann die erste Klasse Hauptschule, die erste Klasse Hauptschule nochmals und positiv abgeschlossen, dann in die zweite und während des Schuljahres abgebrochen. Gibt neun Jahre, Fall erledigt.

Soziale Probleme

Der junge Mann hat es nicht leicht gehabt im Leben – es gibt Gründe, warum eine Schulkarriere so schief geht. Da geht es um das familiäre Umfeld, da geht es um Gewalt, da geht es um soziale Probleme. Dennoch hat er es geschafft!

 

Die sozialen Probleme spielen insgesamt eine zentrale Rolle: Ein sehr großer Teil der muttersprachlich deutschsprachigen Jugendlichen, die ich über die Jahre kennenlernen durfte, hatten alleinerziehende Mütter. Nun spricht da prinzipiell gar nichts dagegen – und viele waren, nach ihren Erzählungen, ohne die Väter auch wesentlich besser dran.

Mangelnde Betreuung und Gewalt

Doch das Problem ist, dass in Alleinerzieherinnen-Familien oft nur extrem wenig Geld da ist. Oft weigern sich die Väter auch, die Alimente zu bezahlen.

Die Mütter mussten Vollzeit arbeiten gehen, teils noch Überstunden machen. Für die Kinder war nicht die Zeit da, die für die Betreuung und Unterstützung notwendig gewesen wäre.

„Wenn ein Flüchtling 300 Euro weniger hat, habe ich keinen Cent mehr.“ Interview für die Freien Radios.

Ein anderer Faktor ist die psychische und physische Gewalt, die gegen die Kinder ausgeübt wird. Einmal kam ein Vater zu mir, der mir erklärte, dass seine Tochter nun Friseurin werden würde, sie sei nun mal ein Mädchen.

Das Mädchen hat sich nicht getraut, zu protestieren

Er wollte mit ihr einfach die (ich glaube) Hernalser Hauptstraße in Wien abgehen und das erste Geschäft, dass sie genommen hätte, dort hätte sie als Lehrling arbeiten müssen. Das Mädchen hat sich nicht getraut, auch nur den Mund aufzumachen.

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Es hat sehr lange gedauert, dem Vater diese Idee auszureden. Und damit keine falschen Bilder entstehen: Das war kein „Migrant“, das war ein „waschechter Wiener“ – wobei natürlich fast alle Menschen in Wien selbst migrantische Vorfahren haben, wenn wir zwei oder drei Generationen zurückgehen. Manche wollen nur nicht daran erinnert werden.

Mindestens ein Jahr

Auch eine zweite Gruppe von Menschen, die keine entsprechenden Bildungsabschlüsse haben, soll von der Kürzung der Mindestsicherung betroffen sein. Mindestens Deutsch auf dem Niveau B1 soll künftig für die volle Mindestsicherung erforderlich sein. AMS-Sprecherin Beate Sprenger sagt, es würde „knapp ein Jahr“ brauchen, um auf B1 zu kommen.

„Im Idealfall“, so Sprenger. Also wenn die betroffenen Personen gut lesen und schreiben können, mit lateinischer Schrift alphabetisiert sind und schnell und gut lernen. Viele Menschen haben diese Voraussetzungen nicht.

Nicht alle schaffen es

Viele der Menschen, die ich betreuen durfte, haben den Pflichtschulabschluss geschafft. Aber leider haben wir auch viele am Weg verloren. Interessanterweise betraf das übrigens fast nie geflüchtete Menschen oder Menschen, die vor kurzem nach Österreich kamen. Bei diesen Zielgruppen gab es fast keine Abbrüche.

Betroffen waren zumeist diejenigen, die in Österreich geboren und aufgewachsen sind und deren Bildungssprache Deutsch war. Der Hintergrund waren hier meist die desolaten Famlienverhältnisse. Manchmal brauchten sie zwei oder drei Anläufe, um es endlich zu schaffen.

Es geht nicht nur um das Lernen

Eben weil es nie nur um das Lernen ging, sondern um die gesamte soziale Situation. Wenn wir genug Platz in den Kursen hatten, haben wir versucht, ihnen diese zweite Chance zu geben. Oft mussten wir aber auch Nein sagen, einfach, weil kein Platz mehr da war.

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Um das zu illustrieren: Über mehrere Jahre hatten wir in unseren Kursen 80 Plätze pro Jahr, im Schnitt gab es dafür rund 250 Bewerbungen. Zwei Drittel aller BewerberInnen konnten wir also nicht einmal die Chance auf einen Kursplatz geben.

Zu schwierig

Für viele Menschen in Österreich ist es auch schlicht extrem schwierig oder unmöglich, den Pflichtschulabschluss zu erwerben.

  • Weil es intellektuelle Einschränkungen gibt
  • Weil es die Zeit nicht zulässt (das betrifft etwa massiv junge alleinerziehende Mütter)
  • Weil es Lernschwächen gibt
  • Weil es zu große Prüfungsängste gibt
  • Weil eine Suchtproblematik kein regelmäßiges Lernen zulässt
  • … oder aus vielen anderen Gründen
585 Euro im Monat Mindestsicherung. Damit werden künftig alle Menschen in Österreich leben müssen, die keinem Pflichtschulabschluss haben oder Deutsch nicht mindestens auf dem Niveau B1 beherrschen. Wie sie damit überleben sollen? Das werden ÖVP und FPÖ uns noch erklären müssen!

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