Am kommenden Donnerstag will der türkische Premier Recep Tayyip Erdoğan in Wien auftreten. Wir erzählen euch, warum es eine Gegendemo gibt, was das mit der FPÖ zu tun hat und warum Erdoğan nicht Fußball spielen kann.
[Erstveröffentlichung: Vice] Recep Tayyip Erdoğan ist so etwas wie der neue Sultan vom Bosporus. Seine AKP, die „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“, regiert die Türkei seit nunmehr 12 Jahren. Seitdem versucht die AKP, das Land Schritt für Schritt in eine ultra-konservative Superreichen-Diktatur zu verwandeln. Proteste wie die Gezi-Park-Bewegung werden brutal zusammengeprügelt, Arbeitsschutzgesetze werden ausgehöhlt, der Verkauf von Alkohol wird erschwert—und wenn sich Widerstand regt, lässt der Premier einfach mal Twitter oder Youtube abrehen.Im August sind in der Türkei die nächsten Wahlen, wofür Premier Erdoğan im Vorfeld auch in Europa auf Wahlkampf-Tournee geht. Vor einem Monat trat er in Köln auf, dort demonstrierten mehrere zehntausend Menschen gegen ihn. Jetzt ist Wien an der Reihe—aber auch hier regt sich Widerstand. Das „Demokratische Bündnis gegen Erdoğan“ bereitet für kommenden Donnerstag eine Großdemonstration vor, zu der mindestens 10.000 Menschen erwartet werden. Das Bündnis ist dabei sehr breit aufgestellt: Es reicht von verschiedenen antifaschistischen und demokratischen Migrantenvereinen über die Österreichische Gewerkschaftsjugend und die „Offensive gegen Rechts“ bis zu marxistischen und trotzkistischen Organisationen.
Wir haben uns mit Bündnis-Sprecher Can Tohumcu unterhalten, der uns mehr über die Hintergründe des Protests erzählte: „Erdoğan steht für nationalistisches und totalitäres Gedankengut. Das lehnen wir ab. In der Türkei gibt es vor allem nach der Gezi-Bewegung Schauprozesse und Massenverhaftungen. Da wollen wir nicht tatenlos zusehen.“
Die Gezi-Bewegung ist also auch ein Jahr nach ihrer Niederschlagung in den Köpfen präsent. Damals wurde wochenlang für den Erhalt des Gezi-Parks am zentralen Istanbuler Taksim-Platz demonstriert. Mehrere Menschen sind dabei gestorben, unter anderem der 15-jährige Berkin Elvan, der im März in Istanbul seinen schweren Kopfverletzungen erlegen war. Berkin ist während der Gezi-Proteste Brot kaufen gegangen und dabei von einer Tränengaskartusche getroffen worden. Danach lag er monatelang im Koma und magerte völlig ab, bevor er starb. Premier Erdoğan sorgte für große Empörung, als er Berkin drei Tage nach seinem Tod einen „Terroristen“ nannte.
Die Gezi-Bewegung war vordergründig eine Bewegung für den Erhalt einer der letzten Grünanlagen der Stadt. Dahinter stand allerdings ein weit gefasster Protest gegen die Regierung Erdoğan. Und es gab es noch einen weiteren wesentlichen Aspekt: Der Taksim hat seit vielen Jahren eine enorm hohe symbolische Bedeutung als Kundgebungsort für die Demonstrationen der Linken. Es ist der traditionelle Treffpunkt für den 1. Mai, wo Hunderttausende auf den Platz strömen. 1977 schossen rechtsextreme Kräfte (möglicherweise mit Unterstützung des Geheimdienstes) in den Mai-Aufmarsch und mindestens 34 Menschen wurden ermordet. Über die Jahre haben schon verschiedene Regierungen die Mai-Demos am Taksim verboten, aber die AKP will nun endgültig Nägel mit Köpfen machen. Der Taksim soll so umgestaltet werden, dass Großdemonstrationen schlicht nicht mehr möglich sind. Demos sollen künftig in ganz Istanbul, völlig unabhängig vom Thema, überhaupt nur mehr an zwei Plätzen erlaubt werden.
Tohumcu betont auch die soziale Dimension der Proteste. Das Bergwerks-Unglück in Soma war vor wenigen Wochen in aller Munde. Weniger bekannt ist, dass Erdoğans AKP kurz davor Untersuchungen über die Arbeitssituation vor Ort verhindert hat. Und besonders pikant: Vor den Wahlen verteilt die AKP gern Kohle aus Soma als „Sozialpaket“. Damit diesmal besonders viel Kohle verschenkt werden kann, wurde offenbar der Arbeitsdruck in Bergwerk erhöht, was ein Mitgrund für den Unfall gewesen sein dürfte. Nach dem Unglück wollte Erdoğan dann in Soma auftreten, was dort nicht besonders gut ankam. Er musste sogar vor der aufgebrachten Bevölkerung in einen Supermarkt flüchten, das Bild seines Berater Yusuf Yerkel, der einen am Boden liegenden Demonstranten trat, ging um die Welt. Als Draufgabe hat die AKP erst diese Woche ein neues Gesetz auf den Weg gebracht, wonach Bergleute künftig 45 statt bisher 36 Stunden arbeiten müssen.
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Für Tohumcu geht es aber nicht nur um Erdoğan: „Wir sind gegen jeden Nationalismus. Wir freuen uns also, wenn alle an unserer Demonstration teilnehmen, die diese Idee mit uns teilen.“ Klar ist für Tohumcu auch, wer bei der Demonstration nicht willkommen ist: Faschistische türkische Graue Wölfe sollen genauso zu Hause bleiben wie Rassisten aus Österreich, die nicht gegen Erdogan sondern ganze allgemein die Türkei demonstrieren. Tohumcu erzählt mir belustigt, dass sie ein Mail vom „Ring freiheitlicher Jugend“ bekamen, die sich offenbar an die Demo anhängen wollten. Das Bündnis hat das Mail dann online gestellt—mit dem Hinweis, dass die jungen Rechten vielleicht den Aufruftext zur Demo lesen sollten. Denn dort heißt es sehr klar: „Eindeutig distanzieren wir uns mit allem Nachdruck von jedem Rassismus, abendländischem Chauvinismus und rechter Demagogie á la FPÖ. Volle politischen Rechte und allgemeines Wahlrecht für alle, die hier leben!“
Auch die „Offensive gegen Rechts“ ruft zur Demonstration gegen Erdoğan auf. Das OGR-Bündnis hatte in den vergangenen Monaten unter anderem die Proteste gegen den Akademiker-Ball der Burschenschaften oder gegen die rechten Identitären organisiert. Käthe Lichtner erzählt uns, warum die OGR auch gegen Erdoğan auf die Straße geht: „Antifaschismus gibt es nur in Verbindung mit internationaler Solidarität. Daher ist für uns völlig klar, dass wir mit den unterdrückten ethnischen, religiösen und politische Gruppen in der Türkei solidarisch sind. Auch die Verbindungen der autoritären AKP-Regierung mit faschistischen Kräften wie den Grauen Wölfen sollten für AntifaschistInnen eine deutliche Warnung sein.“
Der Auftritt von Erdoğan ist in der Albert-Schultz-Halle in Wien-Kagran geplant, wo sonst die Eishockeymannschaft Vienna Capitals spielt. Die DemonstrantInnen gegen Erdoğan wollen sich daher ab 13h am Praterstern treffen und dann über die Reichsbrücke ziehen. Die Albert-Schultz-Halle war dabei keineswegs die erste Wahl der Erdoğan-Unterstützer. Zuvor hatten unter anderem die Stadthalle, die Trabrennbahn Kriau, die Messe Wien sowie das Happel-Stadion und die Stadien von Austria und Rapid abgesagt. Dem Vernehmen nach reagieren österreichische AKP-Vertreter zunehmend gereizt, wenn sie nach dem Ort der Erdoğan-Ansprache gefragt werden. Eine Teilnahme ist übrigens nur nach vorheriger namentlicher Registrierung möglich, wie Can Tohumcu berichtet. Es scheint, als wären kritischen Stimmen auf der Erdoğan-Veranstaltung nicht willkommen.
Und weil ja WM ist, darf ein wenig Fußball natürlich nicht fehlen. Erdoğan kickte selbst für den damaligen Istanbuler Regionalverein Kasımpaşa. Da war er allerdings nicht rasend erfolgreich. Es wird gemunkelt, dass er es nicht sehr schätzt, auf seine „Karriere“ angesprochen zu werden. Zum Ausgleich haben AKP-nahe Geschäftsleute den Verein jetzt in die erste Liga hochgekauft und der Verein hat sogar ein neues Stadion verpasst bekommen. Der Name sagt dabei einiges über die neuen Verhältnisse in der Türkei aus: es ist das Recep-Tayyip-Erdoğan-Stadion.